04/18/22

Hommage an Zeiden

Kränzchen 1927
Kränzchen 1966
Turner - 4 Akrobaten
Waldbadsee

Dass es die Goldenen Zwanziger (hier bis 1935) auch in Zeiden gegeben hat, erfährt man überzeugend aus den Aufzeichnungen von Friedrich Müller, die nun als ansprechendes Bändchen vorliegen in der Reihe „Zeidner MERKwürdigkeiten“. Merk-würdig ist es allemal, was der Offenbacher Müller in den zehn Jahren seines Aufenthalts in Zeiden (1925 bis 1935) aus der Erinnerung in den Fünfzigerjahren aufgeschrieben hat.

Die Aufzeichnungen waren ausschließlich für seine Enkel und deren Eltern bestimmt. Vielleicht weil Müller sich nicht vorstellen konnte, dass seine persönlichen Erfahrungen auch für Leser außerhalb seiner Familie lesenswert wären. Vielleicht auch, weil er befürchtete, sie seien sprachlich nicht gut genug, um veröffentlicht zu werden. Wie oft hört man: Ich sollte meine Erinnerungen aufschreiben, aber ich bin ja kein Schriftsteller.

Nun, Müller hat sich immerhin nicht gescheut zu schreiben, um so zumindest seinen Kindern und Enkeln ein Kapitel seines Lebens zugänglich zu machen. Und zum großen Gewinn für viele Leserinnen und Leser haben sich die Herausgeber dieses Bandes über Müllers Anweisung hinweggesetzt und, mit dem Einverständnis der Nachkommen, sich nicht gescheut diese zu veröffentlichen. „Ich glaube, er hätte sich gefreut“, schreibt seine Tochter Ilse Buchheit.

Dem Leser offenbart sich hier ein Mann mit einer großen erzählerischen Gabe. Man meint, ihm gegenüber zu sitzen und seinen Geschichten zu lauschen. Fast wird man selbst zum Enkel. So wird Müller zum Stellvertreter für unser aller Vorfahren, die in Siebenbürgen gelebt und Siebenbürgen erlebt haben.

Wir erleben Müller aber auch als einen Mann mit Abenteuerlust, Offenheit, Tatkraft, Fleiß, Klugheit und viel Herzenswärme. Letzteres wenn er immer wieder von der lieben Mami schreibt, womit seine Frau und Mutter seiner zwei Kinder gemeint ist.

Laut Vertrag sollte der Feintäschner Friedrich Müller in der Zeidner Lederwarenfabrik Georg Göbbel & Co ein Jahr arbeiten. Seine Offenbacher Kollegen und Freunde gaben ihm höchstens ein halbes Jahr. Die Vorstellung von Siebenbürgen war wohl etwas dürftig. Müller gibt zu, dass seine Abenteuerlust ihn ermutigte, sich auf diese Erfahrung einzulassen. Wie gut, wenn Mut über Zweifel siegt. So wurden aus einem Jahr gleich zehn, bis Müller zusammen mit seiner Zeidner Ehefrau Ida, geborene Stolz, die „blühende, goldene Zeit“ in Zeiden beendete und „unter Tränen den geliebten und ans Herz gewachsenen Stolz-Hof“ in Richtung Heimat verließ.

Die zehn Jahre hat Müller anschaulich dokumentiert. Auch wenn er kein Tagebuch geführt hat, so muss er doch viele Notizen gemacht haben. Nur so ist die Detailvielfalt zu erklären. Wanderungen, Sportaktivitäten, Arbeit auf dem Bauernhof, Hochzeiten, Kränzchen, Ausritte, Arbeit in der Lederfabrik, Kirchgänge, Trachten, Bräuche, aber auch Erfahrungen mit der bestechlichen Gendarmerie oder mit Zigeunern werden ausführlich beschrieben. Er streift sogar politische Zusammenhänge werden, etwa wenn Müller die Spannungen beschreibt, die bei einer Rede des sächsischen Parlamentariers Hans-Otto Roth im vollbesetzten Saal der „Schwarzburg“ (Gasthaus im Zentrum) herrschten, befürchtete man doch eine Gegenrede des Bauerndichters Michael Königes.

Das umfangreiche Inhaltsverzeichnis gibt Aufschluss über die unzähligen Aspekte des Lebens in Zeiden, das sicher so ähnlich auch in anderen Orten Siebenbürgens stattgefunden hat.

Wie konnte nun Müller das alles so genau wissen? Ganz einfach, weil er es erlebt hat. Da kommen wieder seine Abenteuerlust, Offenheit und unerschöpfliche Energie zum Zuge. Mit seinen Offenbacher Kollegen wurde er bald Mitglied des Männerchores und des Turnvereins. Durch seine sportlichen Aktivitäten – er war Leistungsschwimmer – brachte er sich vielfach ein. Man hat den Eindruck, alles machte ihm Freude.

Und: Müller verliebte sich. Nicht nur in Zeiden, sondern auch in eine Zeidnerin, die er in einer opulenten, bis ins kleinste Detail beschriebenen Hochzeit, heiratete.

Eine solche Liebeserklärung an Zeiden kann nur ein Nicht-Zeidner schreiben. Müllers Sichtweise auf Zeiden ist weder von ererbten Vorurteilen noch von Lokalpatriotismus beeinflusst. Zeidner, aber auch Siebenbürger Sachsen im Allgemeinen, fühlen sich in mancher Hinsicht bestätigt, aber auch überrascht, dass Müller so vieles, was selbstverständlich war, als außergewöhnlich empfunden hat. So schärft sein Blick von außen das Bewusstsein für die Werte, die in der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft gelebt wurden.

Wer hier ein allumfassendes Dokument erwartet, mit kritischen Bemerkungen, der wird enttäuscht. Aber das ist auch nicht der Anspruch dieses Büchleins.

Wer sich aber mit Neugier und Wohlwollen auf die kleine Lesereise begibt, der wird eintauchen in eine verlorene Welt, die durch Müllers Erzählgabe und die vielen Fotos für ein paar Stunden wieder lebendig wird.

Annette Königes

(Das Buch kostet 16 Euro und kann ab sofort bei Rüdiger Zell bestellt werden, Telefon 07303-900 647, E-Mail ruedigerzell@web.de)