06/27/22

Nachdenkliches zum Thema Heimat

Auf unserem 24. Zeidner Heimattreffen bildete das Thema Heimat einen wichtigen Schwerpunkt, es zog sich wie ein roter Faden durch viele Veranstaltungen. Für den Zeidner Ortsgeschichtlichen Gesprächskreis (ZOG) hatte Georg Aescht seine Gedanken in einem – wie wir finden – großartigen Text zusammengefasst (den Netti Königes in Dinkelsbühl vorlas, da Georg verhindert war). Auf vielfachen Wunsch und mit Genehmigung des Autors stellen wir den Text allen zur Verfügung – es ist ein lesenswertes Stück.

hk

Mit der Heimat wird man nicht fertig

Heimat ist kein Ort, sie ist keine Zeit – sie ist ein Ereignis, und zwar eines von jenen, die man heutzutage als nachhaltig bezeichnet. Ereignisse aber haben, das ist das Schöne und das Schwierige daran, immer mit Menschen zu tun, werden von Menschen gemacht und erlebt oder erlitten. Leider ist Heimat, und das ist nicht allein unsere Erfahrung, zumeist ein vergangenes Ereignis, eine Erinnerung. Wenn, sobald, ja noch ehe man sie begreift, auch nur zu begreifen versucht, ist sie weg, verschwunden, vergangen, verloren.

Wie geht man um mit der Heimat als etwas, das nicht mehr vorhanden ist, von dem man aber weiß, zu wissen meint, dass es einem etwas bedeutet? Erst in ihrer Abwesenheit erkennt man ihre Gegenwart, die nun eben nicht mehr gegenwärtig ist, und ihre Notwendigkeit, sentimental ausgedrückt: das eigene Bedürfnis, die Sehnsucht danach. Heimat findet für einen erst dann statt, wenn er sich als heimatlos empfindet und meint, das beklagen zu können, zu müssen, zu dürfen. Man nimmt sie erst wahr, wenn sie einem aufs Gemüt schlägt, weil so etwas wie ein Phantomschmerz einsetzt.

Nun dürfen wir hier mitnichten klagen, denn wir sind aufgehoben in einer „neuen Heimat“, Glückskinder der Geschichte gewissermaßen, anders als unsere Eltern und Großeltern – da mag ein jeder die Generationengrenzen für sich und die Seinen nach Gutdünken ziehen. Denken sollten wir allerdings an die, deren berechtigte Klage kaum gehört wird, die aus allen Teilen der Welt kommen, weil sie hoffen, dass es noch einen lichten Fleck gibt auf dieser sich verfinsternden Erde.

Akut erleben die Menschen in und aus der Ukraine seit einem geraumen Vierteljahr, was unsere Eltern und Großeltern einst ebenfalls dort erlebt haben, in ihrem Land, das auch damals schon nicht mehr das Ihre war. Ist es vermessen, ja frevelhaft, eine so unmittelbare Beziehung zwischen ihnen und uns, unseren Altvorderen auch nur in den Blick zu nehmen? Nicht, wenn daraus etwas erwächst, was man gerne als Empathie bezeichnet. Wir, die es nach einem guten halben Jahrhundert hierher geschafft haben, sind den Sowjets und ihren Spießgesellen entronnen – spät, unter Opfern und immer noch nicht ganz, denn die sind immer noch überall, bedrängend nahe jetzt mit ihrem Kriegsgerät in der Ukraine. Umso näher müssen die Menschen dort und von dort uns sein.

Bei diesen allgemeinen, ja etwas schwammigen Überlegungen wird zumindest eines klar: Ratio, Vernunft, das sind bewährte Instrumente aufgeklärten Denkens, naturwissenschaftlicher Forschung, wirtschaftlicher Leistung. Wenn es aber um Gemütsverfassungen, um Phantomschmerzen geht, besteht die Gefahr, dass diese Instrumente den Dienst versagen. Denn bedient wird das Gemüt zuvorderst durch mehr oder minder gekonnte Hervorbringungen von Kunst bis Bräuchen, durch Veranstaltungen wie auch unser Treffen eine ist. Es ist darum besser, im Konkreten zu bleiben, hier unter uns mit Blick für alle anderen, hier wie weit weg. 

Menschen haben ihre je eigene Vorstellung von „Heimat“, und gar manche möchten diese verständlicherweise für sich behalten und nicht zur Schau tragen, wie es bei Heimattreffen mitunter geschieht. Zwischen Leuten, die Heimattreffen besuchen, und solchen, die ihnen fernbleiben, gibt es nicht nur Meinungsunterschiede, sondern manchmal nachgerade grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Das müsste nicht sein, denn es gibt genug Heimat für alle, für alle gemeinsam und für jeden einzelnen, hier wie weit weg.

Umso schwieriger gestaltet sich die Gemeinsamkeit, die Gemeinschaft, wenn die ehemalige Heimat im „Osten“ liegt, der Phantomschmerz seinen Ursprung etwa in Siebenbürgen hat – hier konkret in Zeiden. Der Weg aus Deutschland dorthin ist weit, nicht nur an Kilometern. Zudem verändert zumal der „Osten“ dauernd sein Gesicht, und nicht nur zum Guten. Die Menschen, die den weiten Weg zurückfahren, finden unter Umständen nicht mehr, was sie suchen, oder sie vergessen überhaupt, was sie suchen wollten. Es soll sogar welche geben, die hinfahren, um bestätigt zu finden, dass sie dort nichts mehr zu suchen haben.

Zurück kommt man mit wenigen Gewissheiten, aber mit dieser einen bestimmt: dass man nicht vergeblich dort gewesen ist, weder einst noch jetzt. Von einer Bereicherung zu reden ist hochgestochen und wenig zutreffend, denn die Erfahrung ist in erster Linie die eines Verlustes. Eines Verlustes von natürlicher und gebauter Landschaft, Wald und Flur, Haus und Hof, von Menschen und Traditionen, Geschichte und Geschichten – von Heimat. Von dem allem hat man nur Reste wiedergefunden, oft bis zur Unkenntlichkeit verheerte Spuren oder schmerzlich versehrte Einzel- oder Gruppenexistenzen. „Heimat“ ist das nicht mehr.

Oder doch? Man lernt auch etwas über diesen abstrakten, ja schwammigen Begriff, und zwar in erster Linie, wie schlecht er funktioniert. Mit ihm lässt sich nichts fassen, nichts begreifen, er schillert und verschwimmt wie das Bild der Landschaft, durch einen Tränenschleier betrachtet.

Darum hält man sich am besten – ich wiederhole mich – ans Konkrete. So tut man gut daran, in der Kirche zu sitzen und um sich und in sich zu schauen, auf den Friedhof zu gehen, durch die Gräberzeilen mit den bekannten und weniger bekannten Namen, durch die Gassen zu streifen, sich zu wundern, zu ärgern, je nach Gemütslage und Grad der Betroffenheit. Hinaus in Wald und Feld kann man gehen, überall gibt es etwas wiederzufinden und vieles zu vermissen. Zusammensitzen kann man mit Leuten, die ebenfalls von weither angereist sind, oder mit solchen, die immer noch dort leben – die Gespräche über die Vergangenheit sind meist erfreulicher als die über die Gegenwart, durchweg erfreulich aber ist, dass man miteinander reden kann wie eh und je. Das alles haben die Organisatoren der Heimattreffen meist wohl bedacht und den denkbar besten Rahmen geschaffen. Mit Leben füllen können diesen Rahmen die Leute selbst und sich dabei vergewissern, , dass „Gemeinschaft“, dass „Nachbarschaft“ oder „Landsmannschaft“ in der Worte ursprünglicher Bedeutung nicht lediglich Organisationsformen ist, sondern eine Lebensform ausmachen – und ein Empfinden jenseits geographischer Gegebenheiten.

Gerade das einem jeden eigene Gefühl allerdings gerät bei Festveranstaltungen ins Hintertreffen. Die allgemein aufgeräumte Stimmung, die festlichen Reden, die wiederholt und von allen Seiten ausgesprochene Dankbarkeit und die allerseits erklärten guten Absichten, die Musik und die dadurch befeuerte Rührung – das sind alles durchaus legitime, ehrbare Regungen und Strebungen. Was aber bewegen sie, wen bewegen sie nachhaltig, wozu führen sie außer zu Bild- und Tondokumenten in modernster technischer Qualität, mit hohem Erinnerungswert, aber weder dokumentarisch noch ästhetisch besonders ergiebig?

Nun ist es nicht Zweck einer solchen Zusammenkunft, etwas zu produzieren oder zu etwas zu führen. Wieso aber setzen die Menschen dann ihre Zeit daran, wieso nehmen so viele die Kosten und Anstrengungen einer langen Reise auf sich? Sind es nur die inneren Saiten der Rührung, die ab und zu bespielt werden wollen, ist es die Sehnsucht nach einer künstlichen Geborgenheit auf Zeit, ist es das, was Brecht als „tümlich“ bezeichnet und von dem er gesagt hat, „das Volk“ sei nicht so? Von all dem ist es wohl etwas, und niemand kann allen Ernstes bestreiten, dass er von all dem auch etwas in sich trägt – mit mehr oder minder unruhigem Gewissen vielleicht, wenngleich er dazu keinen Grund hat.

Denn bei allen Einschränkungen und Bedenken, bei allen vielleicht nicht zur Genüge gewürdigten Anstrengungen und manchmal minder gelungenen Auftritten: Ein jeder kann von dem Heimattreffen etwas nach Hause tragen, wo immer dieses Haus nun sein mag. Er weiß jetzt, dass es andern ebenso ergeht wie ihm, er weiß, dass er vieles mit vielen gemeinsam hat, seien es auch nur Verlustgefühle, und er weiß, dass der Gram darüber niemandes Leben bestimmen darf. Es ist vielmehr besser und gescheiter, auch in Bezug auf die Heimat zu tun, was besagter Bertolt Brecht kurz vor seinem Tod als eigenen Erfolg erkannte. „in weißem Krankenzimmer der Charité“ sei es ihm gelungen, sich „zu freuen allen Amselgesanges nach mir auch“.

Wiederum konkret: Siebenbürgen ist kein Krankenhaus, und wir Zeidner sind nicht verwandt mit Bertolt Brecht – im Entferntesten nicht. Ein Heimattreffen ist auch nicht der Ort, Empfindungen und Gemütszustände dialektisch zu hinterfragen und auszudifferenzieren. Und doch ist es ein Erlebnis auch für den, der glaubt, ein bisschen Brecht im Kopf und kein Brett davor reichten aus, mit dem, was nicht mehr da ist und was da auf einen zukommt, fertigzuwerden. Man wird nicht fertig damit, denn das hieße, dass man auch mit all den Menschen „fertig“ wäre, die da zusammenkommen. Aber das ist man nicht, hoffentlich noch lange nicht, nie.

Georg Aescht