01/13/21

Der 13. Januar – kein Tag wie jeder andere ….

Jedes Jahr, wenn sich dieser 13. Januar im Kalender jährt, denke ich andächtig und traurig zurück an diesen für uns Sachsen verhängnisvollen und grauenhaften Tag in Zeiden. Mit Hilfe von Rosa Franz, geb. Stolz (Hintergasse) habe ich meine damaligen Kindheitserinnerungen an diesen Tag aufgefrischt und schriftlich festgehalten:

Der 13. Januar 1945 war in Zeiden ein sehr kalter Wintertag. Der Bach in der Hintergasse, über den damals insgesamt vier Brücken bzw. Fußgängerüberwege führten, war, wie so oft im Winter, zugefroren. Auf beiden Seiten des Baches bildeten sich Rinnsale, die ebenfalls zugefroren waren. Und das war gut so, denn auf diesen glatten Eisflächen „glitschen“ wir Kinder tagein, tagaus mit einer besonderen Freude und Ausgelassenheit und erfreuten uns an der Winterlandschaft in der Hintergasse.

So war das auch am 13. Januar, als mir, ich war damals sechs Jahre alt und besuchte den Kindergarten in der Hintergasse, aus dem Stolz’schen Nachbarhaus die Rosa Stolzgroßmutter, im Fenster lehnend, zurief: „Geh schnell nach Hause, dein Vater wurde abgeholt“. Was war passiert? Nachdem die Rumänen bis zum 23. August 1944 auf der Seite des Deutschen Reiches an der Ostfront gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, wechselten sie plötzlich und unerwartet die Fronten und die Rote Armee konnte so in der Folgezeit ohne Kampfhandlungen Rumänien besetzen.

Von einem Tag auf den anderen standen sich die bisherigen Verbündeten plötzlich als Feinde gegenüber. Das hatte verheerende und zu dem Zeitpunkt unabsehbare Folgen.  Im Spätherbst 1944, der Krieg war an verschiedenen Frontabschnitten noch in vollem Gange, erreichten Kampfverbände der russischen Armee, die bereits von Osten ins Land eingedrungen waren, auch Zeiden.

 In der Hintergasse Nr.339, im Haus der Familie Stolz, richteten die Russen ihre Kommandozentrale ein und übernahmen so, selbstverständlich auch das Kommando im Haus. Im Schlafzimmer der Großeltern Andreas und Rosa Stolz schliefen jetzt russische Offiziere und das junge Ehepaar Erwin (geb. 1907) und Rosa Stolz (geb. 1915), waren für das Waschen und Bügeln der Offizierswäsche zuständig. Für die Versorgung der Mannschaften musste natürlich auch gesorgt werden.

Für die russische Küche schlachtete Erwin – wohl dem der Ochsen hatte - zwei Ochsen auf dem Hof. Alles war in russischer Hand und von jetzt auf gleich waren die Hofbesitzer verängstigte Befehlsempfänger. Die junge Familie Stolz hatte fünf Kinder, vier Mädchen und einen Jungen. Der jüngste, Erwin, war gerade zwei Jahre alt. Auf dem Hof wohnte außerdem Erwins ältester Bruder Andreas (geb. 1900), der bereits den Ersten Weltkrieg als Frontkämpfer miterlebt hatte, und kriegsbedingt (Kriegsfolgen) ledig geblieben war.  Vor dem Haus in der Hintergasse standen mit Maschinenpistolen bewaffnete russische Wachposten, die das Haus rund um die Uhr bewachten. Jeder der das Haus betreten wollte, musste sich ausweisen.

Da sich Rumänien als Kollaborateur Hitlers bis August 1944 schuldig gemacht hatte, und während der Kämpfe an der Ostfront für Zerstörungen auf russischem Boden, verantwortlich gemacht wurde, hatte Stalin befohlen, Rumänien dafür zu bestrafen und dem Land auferlegt, Arbeitskräfte für den Wiederaufbau zu stellen. Als angemessene Strafe, als Repressalie schlechthin, wurden für diejenigen, die bestraft werden sollten, fünf Jahre Arbeitsdienst vorgesehen.  Aber diese Befehle von oberster Stelle fanden im Geheimen statt. Da diese Strafmaßnahme mit sofortiger Wirkung in Kraft treten sollte, wurden im Rathaus in Zeiden heimlich die Listen der arbeitsfähigen Frauen (ab dem 18. bis 30. Lebensjahr) und Männer (ab dem 17. bis zum 45. Lebensjahr) zusammengestellt und in der Nacht zum 13. Januar 1945 und danach damit begonnen, die Aushebung der aufgelisteten Personen mit einer gewissen Strenge vorzunehmen. Verantwortlich für diese heikle Aktion waren Sonderkommandos (Patrouillen), die aus zwei rumänischen Polizisten und zwei russischen Soldaten der GPU (russ.staatl. Verwaltung) bestanden.

Die älteren Bauern in der Gemeinde, denen die überraschende Aushebung altersbedingt erspart blieb, und die Pferdegespanne hatten, wurden aufgefordert, die ausgehobenen Personen mit ihrem spärlichen Reisegepäck (Kleidung und Essensvorräte), zur deutschen Schule in die Marktgasse zu fahren, weil in der dortigen Turnhalle die Sammelstelle „eingerichtet“ wurde.

Ohne zu wissen, wohin der Weg führen sollte, folgten die 480 Männer, Jungen, Frauen und Mädchen der Aufforderung der Russen, ohne Widerstand zu leisten. Darunter befand sich auch mein Vater, Schmiedemeister Franz Schoppel (geb. 1900). Nachdem er mit dem Wagen abgeholt und zur Schule gebracht wurde, stellte die Kommission fest, dass er an beiden Knöcheln offene Wunden und an den Beinen Krampfader-Geschwüre hatte. Aus diesem Grund konnte er kein festes Schuhwerk anziehen. Er hatte Glück. Als nicht transportfähige Person wurde er von den Russen als arbeitsuntauglich eingestuft und mit dem Wagen wieder heimgefahren.

Auch meine Mutter hatte Glück, weil sie bereits 45 Jahre alt war und nicht zum aushebepflichtigen Personenkreis zählte. Doch nicht nur Vater und Mutter hatten Glück, sondern die ganze Familie. Schließlich hatten meine Eltern sechs Kinder, die ernährt werden mussten und die sich ein Leben ohne Eltern nicht vorstellen konnten.  Die Nachbarn Rosa und Erwin Stolz hatten, wie viele andere Zeidner Familien, das Nachsehen. Ihnen war dieses Glück, verschont zu bleiben, nicht vergönnt.  Ihre Namen standen auf der Liste, obwohl sie fünf Kinder hatten. Das gleiche Schicksal traf auch Erwins Bruder, Andreas. Mit 45 Jahren hatte er leider das Pech, dem Aushebungsjahrgang 1900 anzugehören.  Ein russischer Offizier, der im Hause Stolz einquartiert war, hatte der Familie Stolz aus Dankbarkeit russisches Geld gegeben, in der Hoffnung, dass sie es brauchen können. Ohne zu wissen, dass die Reise nach Russland führte, nähte Erwin Stolz dieses Geld in seine Kleidung ein und nahm das Geld mit auf die Reise ins Ungewisse.

Nachdem sich die Ausgehobenen in der Turnhalle eingefunden hatten, fand eine kurze Übergabe an die Russen statt. Danach ging es mit den Fuhrwerken nach Kronstadt, wo in der Militärkaserne in der Langgasse ein Sammelplatz eingerichtet wurde. Von dort wurden die ausgehobenen Sachsen (auch aus anderen Gemeinden des Burzenlandes) mit LKWs zum Bahnhof gebracht, wo sie gemeinsam – Männer und Frauen, Verheiratete und Unverheiratete, Jungen und Mädchen - in Güter- und Viehwaggons „verladen“ wurden. 

Spätestens als die Waggontürriegel von außen in die Schlösser fielen, war den Ausgehobenen klar, dass es von dort kein Entrinnen mehr gibt. Sodann setzte sich der unbeheizte Zug – von hygienischen Zuständen ganz zu schweigen - in Richtung Norden in Bewegung. An der rumänischen Grenze zur Ukraine endete der erste Teil der Fahrt, die unter unmenschlichen Bedingungen, stattfand. Angst, Scham und Ekel überkam die meisten während dieser Fahrt. Besonders die jungen, eingepferchten Mädchen und Frauen taten sich schwer mit diesen für sie unerträglichen Umständen zurecht zu kommen. Überwindung war angesagt.

Da die Schienenführung in Russland breiter ausgelegt war als in Rumänien, mussten die Zuginsassen an der Grenze aussteigen und den Zug wechseln. Dabei wurden die Verheirateten von den Unverheirateten getrennt. Danach ging die Fahrt ins Ungewisse weiter, bis man nach neun Tage langer Fahrt endlich im Donezbecken ankam und anschließend auf die diversen Arbeitslager verteilt wurde. Notdürftig in Baracken untergebracht – es herrschte strenger Winter – begann für viele eine Zeit voller Entbehrungen, von Hunger und schwersten Arbeitsbedingungen, die für 113 Zeidner mit dem Tod endete. Der erste, den dieses tragische Schicksal ereilte, war der erst 17- jährige Otto Brenndörfer aus der Hintergasse 55, der Sohn von Christian Brenndörfer und Rosa Brenndörfer geb. Schoppel.

Durch den Krieg, die Gefangenschaft und letztendlich die Aushebung am 13. Januar fehlten, besonders den Kindern, plötzlich die Eltern, als Haupternährer und Rückhalt der Familie. Ihre Rolle als Erzieher übernahmen von einem Tag auf den andern die Großeltern, nahe Verwandte oder gar Freunde der Familie. Die ganze Gemeinde stand in dieser Situation unter Schock, denn niemand wußte, wie es weiter gehen soll und vor allem, wie lange dieser elternlose Zustand und die Trennung für die zurückgebliebenen Kinder und Eltern dauern sollte. Diese Zeit war wohl die schlimmste, die die zurückgebliebenen und voneinander getrennten „Familien“ nach dem Zweiten Weltkrieg erleben sollten.

Franz Schoppel sen.

Da unsere Familie von dieser leidvollen Deportation und dem damit verbundenen Elend verschont geblieben war und Vater die Schmiedewerkstatt mit den Lehrlingen und Gesellen weiterführen konnte, kannten wir in dieser schweren Zeit zu Hause keine materielle Not. Im Gegenteil, im Gegensatz zu anderen, hatten wir mehr als wir brauchen konnten. Vater hatte den Ernst der schlechten Versorgungslage sofort erkannt, und so bot er den Alten in der Gemeinde, gemäß der Devise - niemand darf hungern – seine persönliche Hilfe an. Er, der das Glück hatte vom Elend der Deportation verschont zu bleiben, sah es als seine selbstverständliche Bürgerpflicht an, den Bedürftigen – und die gab es in Zeiden - Hilfe anzubieten und damit die schwer gebeutelte Gemeinschaft auf seine Weise zu unterstützen und für die Not leidenden Menschen da zu sein. In diesem Bewusstsein wurden wir Kinder auf dem Schoppel-Hof in der Hintergasse erzogen. Zeitlebens hat mich dieser Gemeinschaftssinn und diese Hilfsbereitschaft geprägt und die Erinnerung an meinen Vater bis heute stets wachgehalten.

Der 13. Januar ist für mich ein besonderer Gedenktag. Ich erlebe diesen Tag, selbst nach 76 Jahren, egal wo ich mich aufhalte, als sei es gestern gewesen. Solche Erlebnisse hat man an solchen Tagen immer vor Augen und diese bleiben im Gedächtnis haften.

Kurt Schoppel

Pferdebeschlag. Bild: Kurt Schoppel
Franz Schoppel sen. 1956. Bild: Kurt Schoppel