02/01/15

70 Jahre Deportation

Aus den Aufzeichnungen von Hedwig Voinea, geborene Martonyi (Teil 3).


Es kam bald die Zeit, dass ich mich schlecht fühlte und schließlich im Lagerhof auf dem Weg zur Waschküche zusammenbrach. Als ich erwachte, lag ich in der Krankenstube. Bis zu der Zeit hatte ich 16 Kilo abgenommen, war schwach und anfällig für jede Krankheit. Gerade herrschte im Lager Typhus. Ich lag im Zimmer mit Typhus-Kranken, steckte mich an, bekam aber eine leichtere Form. Viele sind daran gestorben. Ich muss einen Schutzengel gehabt haben. Nach etwa zehn Tagen wurde ich entlassen und musste zu meiner Brigade zurück. Wir arbeiteten im Zapotna-Schacht, tief unter der Erde. Wie es dort war, kann man kaum beschreiben. Der Weg bis hin war weit. Mit Carbidlampen stiegen wir hinunter in diesen Schacht, der eine sehr gute Kohle hatte. Während des Krieges zerstörten erst die Russen auf ihrem Rückzug die Wasserinstallationen, die deutschen Soldaten setzten sie instand und zerstörten sie erneut auf ihrem Rückzug. Also tropfte es aus den Seitenwänden und von oben. Dazu der Kohlegeruch. Es war eine ganz stickige, ungesunde Luft.

Nach wenigen Wochen wurden die Arbeiten dort aufgegeben und man versetzte uns an einen neuen Arbeitsplatz in einen Steinbruch mitten im Dorf. Eigentlich war es kein Steinbruch, sondern ein Berg von Abfällen aus dem Bergwerk. Der Berg brannte in sich. Die so entstandenen Schichten mussten wir freischaufeln und durch ein Sieb werfen, damit sie als Baumaterial weiterverwendet werden konnten. Es war keine leichte Arbeit, denn mit der  „Sepoi“ (Spitzhacke) mussten zuerst Stücke freigeschlagen werden. Alle sechs, die wir für diese Arbeit eingeteilt waren, waren zu schwach dafür. Aber es war uns egal. Hauptsache, wir arbeiteten im Freien. Was uns schon morgens müde machte, war der Weg zur Arbeit. Wir gingen die ganze Strecke auf dem Bahngleis, an die vier Kilometer, wenn ich richtig schätze. Denselben Weg wieder zurück und immer beaufsichtigt von einer Russin, die von früh bis abends Sonnenblumenkerne aß. Unsere Arbeitsstelle war an einem Weg und gegenüber, in einem großen Hof, stand ein sehr schönes, mehrstöckiges Gebäude. Wir stellten bald fest, dass dort ein Lazarett für Kriegsverwundete war. Täglich wurden Tote auf einer einfachen Tragbahre in die Totenkammer gebracht, zugedeckt nur mit einem Leintuch. Diese Kammer war ganz nahe von uns, nahe dem Stacheldraht. Nachts wurden die Toten aufgeladen und in einem Graben verscharrt. Deprimierend und beängstigend für uns.

Ich sah mich des Öfteren auf der Tragbahre liegen, denn ich war krank, sehr krank. Meine Leber und Galle verursachten mir nach meiner Krankheit im Lazarett täglich um dieselbe Zeit Krämpfe, die aber ohne Fieber einhergingen. Trotzdem musste ich jeden Tag zur Arbeit, denn krankgeschrieben wurde man nur, wenn man Fieder über 38° hatte.

Ich habe vergessen, über die Nachricht vom Kriegsende zu schreiben. In der Nacht zum 9.Mai 1945 wachten wir auf, das russische Lagerpersonal lief hin und her, schrie, lachte und sang. Wir mussten im offenen Viereck im Hof antreten. Die Offiziere standen mit ernster, verächtlicher Miene vor uns und riefen: „Voina concila! Voina concila!“. Das hieß: Der Krieg ist aus. Sie seien die Sieger und Deutschland käme unter die Räder. Was diese Nachricht für uns bedeutete und wie wir sie aufnahmen, kann ich kaum erklären oder beschreiben. Wir wussten schon lange, dass die deutschen Truppen auf dem Rückzug waren, aber ein Funken Hoffnung war immer noch da. In uns allen brach eine Welt zusammen. Wie wird sich diese neue Situation im Lager auswirken? Werden wir es noch schwerer haben als bis zu diesem Zeitpunkt? Es gab so viele Fragezeichen für uns. Wir fühlten uns  noch hilfloser, völlig der Willkür der Russen ausgeliefert. Jetzt waren wir erst recht Gefangene und der letzte Funken Hoffnung auf unsere Freilassung erlosch fast vollständig.

Einige Morgen mussten wir im offenen Viereck antreten, und es wurde uns der Verlauf der Dinge vorgetragen, besonders was den Verbleib Hitlers betraf. Aber wer konnte die Wahrheit erfahren? Wir waren von der Außenwelt vollständig abgeschnitten, nur auf die Informationen der Russen angewiesen.

Abends gegen 17 Uhr kamen die Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen ins Lager zurück, schwarz vom Kohlenstaub, nur die Zähne  noch irgendwie weiß, müde, mit hängenden Schultern und hungrig. Diejenigen, die nicht im Bergwerk arbeiteten, waren zwar nicht schwarz, aber genau so müde, hungrig, elend und verzweifelt. Täglich starben einige Personen, vor allem Männer. Wenn sie dann auf dem Friedhof auf einer Bahre ohne Sarg getragen wurden, gab es immer einen Stich durch das Herz und wieder kam die Frage, wann werde ich dran sein.

Der Sommer 1945 war ein sehr heißer. In den Baracken, in denen wir hausten, waren Läuse und auch unheimlich viele Wanzen. Sie lauerten in jeder Fuge der Tür - und Fensterstöcke, in den Rissen der alten Wände und den Ritzen der Fußböden. In der Baracke Nummer 5 in unserem Zimmer waren dreistöckige Eisenbetten, deren Füße (Stangen) in mit Petroleum gefüllten Schuhcremeschachteln standen. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Wanzen hochkriechen. Das war natürlich keine Lösung, aber wahrscheinlich wollte man damit nur zeigen, dass man sich um uns kümmert. Unsere Betten standen mit dem Kopfende direkt an den Wänden und Fenstern. Aus allen Fugen krochen die Wanzen nachts heraus, holten sich durch ihre Bisse ihre Nahrung und ließen uns nicht schlafen. Es war die reinste Plage, fast unerträglich.

Die meisten, die Opfer dieser Wanzenplage waren, nahmen sich bei gutem Wetter abends die Decken und schliefen im Freien, dicht neben den Baracken. Das brachte andere Nachteile mit sich. Erstens war der Boden hart. Außerdem stank es fürchterlich. Die Latrinen waren nämlich weit weg, am anderen Ende des mit Stacheldraht umzäunten Bereiches. Nachts, wenn jemand hinaus musste und es nicht mehr zur Latrine schaffte, erledigte er oder sie das „kleine Geschäft“ unweit oder gleich neben der Baracke. Es stank dementsprechend.

Das Klosett war unter freiem Himmel, eine unhygienische Einrichtung. Ich schätze, die Senkgrube war etwa 70cm tief, 30m lang und vielleicht 8 bis 10m breit. Quer auf etwa 2m wurden Balken gelegt und darüber Bretter festgenagelt in Abständen von 50 cm. In der Mitte der Latrine war eine Wand aus Brettern, 1,50m hoch, die den Bereich für Frauen von dem der Männer trennte. Es stank bestialisch und alles Mögliche Ungeziefer schwirrte herum.

Anfangs waren im Lager 1600 Menschen, nach zwei Wochen nur noch 600 und alle benützten diese Latrine. Im Winter bildeten sich gefrorene Türme, die die „Sache“ erschwerte. Das war schon schlimm genug, aber später, wenn es taute, war es noch schlimmer. Epidemien brachen aus. Viele Menschen starben und wurden auf einem Hügel verscharrt, besonders Männer, da viele ihr Brot für Mahorka und Zeitungspapier verkauften, um sich Zigaretten zu drehen.

Noch etwas fällt mir ein. Außer unserer täglichen Arbeit mussten wir oft zusätzlichen Arbeitsdienst im Lager leisten. Es sollte eine neue Lagerkantine gebaut werden, und zwar unter der Leitung von Hans Hiel. Sehr oft mussten wir unter beiden armen Ziegeln zur Baustelle schleppen. Der Weg war sehr lang. Die Männer halfen am Bau oder mussten das Lager mit Kohlen versorgen. Das war eine mühsame, schwere und schmutzige Arbeit. Ich habe mich oft an den Spruch von Herder erinnert, der lautete: „Trägt das Schicksal dich, so trage du wieder das Schicksal. Folge ihm willig und froh. Und willst du nicht, du musst!“ Er mag Recht haben, aber diesem Schicksal konnte man weder willig, noch froh folgen. Wir waren Kriegsgefangenen gleichgestellt, verletzt, verzweifelt, hoffnungslos und verbittert. Warum diese Knechtschaft? Warum mussten wir dieses alles erdulden und wie lange noch?