05/27/14
Die darstellerische Intelligenz des Ernst von Kraus
Der Schauspieler wird neunzig Jahre alt
Ins Todesjahr des Theaterregisseurs Hanns Schuschnig (Siebenbürgische Zeitung vom 31. März 2014) fällt der neunzigste Geburtstag des anderen herausragenden Theatermannes dieser Generation mit siebenbürgischen Wurzeln: des drei Jahre älteren Ernst von Kraus. Am 14. Juni 1924 in Zeiden im Burzenland geboren, bietet der Lebenslauf des begnadeten Schauspielers nicht nur jenes Bild der Fülle an Wirkungsstätten, das sich fast immer mit diesem Beruf verbindet, sondern zugleich das klassische Bild einer Generation, der nichts geschenkt wurde: die sich in Kriegs- und Nachkriegszeiten behaupten musste. Erst recht, wenn es sich dabei, wie im Falle des Ernst von Kraus, um einen außerhalb Deutschlands geborenen Deutschen handelt.
Seine Bühnenpräsenz umfasst die Jahre 1943-1992. Sie fand in rund 230 Rollen in einem Dutzend Theatern vom Banat über Siebenbürgen bis in die Bundesrepublik Deutschland ihren Ausdruck. Überall gewann der gut aussehende Schauspieler mit der klangvollen Stimme und makellosen Diktion, mit dem disziplinierten Berufsethos und einer weit gespannten Wandlungsfähigkeit in der Auffassung unterschiedlichster Bühnenfiguren zusätzlich zum Vertrauen der Regisseure die Zuneigung des Publikums. In den Rollen, deren Anforderungen er sich stellte, wirkte Ernst von Kraus – darin waren sich die Kritiker einig – authentisch, überzeugend.
Ins erste Jahrzehnt dieser erstaunlichen Lebensleistung fallen auch Kriegsteilnahme, Gefangenschaft, dazu im kommunistischen Rumänien Verfolgung, berufsfremde Zwangsbeschäftigung, z.B. als Eisenbahn-Streckenarbeiter, schließlich als Lehrer, ehe nach drei Jahren am Rumänischen Staatstheater in Kronstadt 1953 die Rückkehr an eine deutschsprachige Bühne möglich wurde: ans Deutsche Staatstheater in Temeswar, 1959 an die Deutsche Sektion des Staatstheaters in Hermannstadt und – nach der Emigration – 1963 zunächst ans „Theater der Jugend“ in München.
Die soliden Grundlagen seiner Darstellungskunst erhielt Ernst von Kraus in frühen Jahren. Noch nicht sechzehnjährig nahm er – damals Schüler des Evangelischen Lehrer-Seminars in Hermannstadt – Schauspiel- und Sprechunterricht bei Ernstfritz Eitel (1886-1982), der nach Tätigkeit an den Bühnen in Aussig und Königsberg 1933 Intendant des soeben gegründeten Deutschen Landestheaters in Hermannstadt geworden war. Gleichzeitig nahm sich der von Größen wie Wilhelm Pinder (1878-1947), Friedrich Gundolf (1880-1931) und Hans Joachim Moser (1889-1967) an den Universitäten Heidelberg und Leipzig geprägte Geisteswissenschaftler Harald Krasser (1905-1981) des Halbwüchsigen an. Als dann der Neunzehnjährige in der Rolle des Grafen Leonard in Eichendorffs „Die Freier“ zum ersten Mal auf der Hermannstädter Bühne zu sehen war, bot er nicht nur eine handwerklich saubere, sondern eine bravouröse Leistung. Das Publikum, besonders die Jugend, dankte es ihm mit begeistertem Beifall. Während der Spielzeit 1943/44, der letzten in der kurzen Geschichte dieses Theaters, war Ernst von Kraus in zwölf Rollen zu sehen, u.a. als Schüler in Goethes „Faust“, als Max Piccolomini in Schillers „Wallenstein“. Ich sah ihn – meinen um ein Jahr älteren Schulkollegen, Sportkameraden und Freund – in sämtlichen Rollen; der Eindruck, der sich mir bis heute erhielt, waren die Selbstverständlichkeit seines Spiels und die Leichtigkeit in der Handhabung der Sprache wie der Körpergestik. Nichts wirkte erzwungen, nichts aufgesetzt oder unsicher.
Der Weg, den Ernst von Kraus beginnend mit der Rolle des abenteurnden Grafen in Eichendorffs romantischem Verkleidungs- und Verwechslungsstück bis hin zu Goethes tragischem Faust zurücklegte, hatte – als ich ihn 1953 nach zehn Jahren wieder auf der Bühne sah – deutliche Spuren des Reifens hinterlassen: unvergessen die nicht nachlassende Konzentration, mit der der Neunundzwanzigjährige die komplexe Gestalt des Suchers Dr. Faust deutete, nicht minder die des in Konventionen erstickenden – so ganz anderen – Helmer in Ibsens „Nora“. Zwei Frauen wirkten in jenen Jahren künstlerisch bildend und beratend auf Ernst von Kraus ein: die Schauspielerin Margot Göttlinger (1920-2001) und die Tänzerin, Choreographin und Regisseurin Gerda Salzer (1910-1990), die ihm Jahre später in Wien zur Vertrauten in Fragen der Ausübung seiner Kunst wurde.
Nach kurzer Ehe mit der Schauspielerin Gerda Roth und der Geburt 1964 der Tochter Andrea wechselte Ernst von Kraus vom Münchner „Theater der Jugend“ für die Spielzeit 1964/65 ans Stadttheater Hildesheim. Danach führten ihn Engagements an die Landestheater Coburg und Saarbrücken, die Stadttheater Regensburg und Bremerhaven, abermals nach Regensburg und 1979/87 nach Bremerhaven. Über die berufliche Altersgrenze hinaus war er danach in Marburg/L. auf der Bühne zu sehen, er machte die Herbsttournee des Hamburger „Ohnsorg-Theaters“ und 1991/92 des Stuttgarter „Theaters im Marquart“ mit. Einem knappen, im November 2007 verfassten „Lebenslauf“ fügte er die Sätze hinzu: „Nun reicht‘s mir aber. Fast 50 Jahre Theater!“
Wer sich die Auflistung der in diesem halben Jahrhundert verkörperten Theatergestalten ansieht, dem wird über die Menge hinaus die außerordentliche Bandbreite der Charaktere auffallen, die Ernst von Kraus darstellerisch gestaltete. Von den klassischen Jamben des Muttermörders Orest in Goethes „Iphigenie“ bis zur sperrigen Bühnenprosa des Predigers in Brechts „Mutter Courage“, vom Pathos des Okelly in Schillers „Maria Stuart“ bis hin zum flapsigen Jargon des Peer Brille in Gurt Goetz’ „Hokuspokus“ u.v.a. bewies Kraus die Beherrschung aller Sprach- und Charakter-Varianten. Die Gestalt des unverkennbaren US-Amerikaners Higgins in Frederik Loewes „My fair Lady“ hatte in ihm den empathischen Interpreten wie die des französischen Hasardeurs Riccault in Lessings „Minna von Barnhelm“ etc. Sie alle fanden ihr Echo in den Kritiken, die sich mit Ernst von Kraus beschäftigten. Ob Shakespeares, Shaws, Horváths, Molières, Dürrenmatts oder Anouihls Vision vom Menschen auf der Bühne zum Leben erweckt werden sollte – die nicht nur angeborene, sondern auch die Jahrzehnte lang trainierte und kultivierte Spiel- und Bühnenintelligenz des Ernst von Kraus wurde ihr gerecht.
Mit zunehmendem Alter dämmten die Auswüchse des Regie-Theaters seine Lust an der dramatischen Kunst ein. Die zum Programm erhobene Entfernung der Inszenierungen von Absicht und Anliegen des Autors oft bis zur Unkenntlichkeit erschien und erscheint ihm als Verfälschung der Textvorgabe, ja als deren Verhöhnung. Nicht zuletzt so ist das oben zitierte „Nun reicht‘s mir ...“ zu verstehen. Dessen ungeachtet zeigt sich im Rückblick auf die „fast 50 Jahre Theater“ das imponierende Panorama einer in sich geschlossenen Berufserfüllung.
Bis vor wenigen Jahren lebte Ernst von Kraus in Regensburg; seine Wohnung in der zweitausendjährigen Castra Regina bescherte ihm den täglichen Blick auf die beiden Türme des Sankt-Peter-Doms. Sehbehinderungen zwangen ihn zur Aufgabe, so wie er 2007 auf seine Wohnung im geliebten Wien verzichtet hatte. Der Neunzigjährige lebt im Siebenbürgerheim in Rimsting am Chiemsee. „Ich bin das letzte noch lebende Mitglied des ehemaligen Deutschen Landestheaters in Rumänien“, schrieb er mir vor kurzem.
Freundschaft, verbunden mit Achtung vor einer durch alle Fähr- und Hemmnisse hindurch bewahrten Treue zu sich selbst: zur künstlerischen Berufung, veranlassten mich zu diesen Zeilen.
Dir von Herzen künftighin das Beste!
Hans Bergel
(Siebenbürgische Zeitung, Folge 8 vom 20. Mai 2014, Seite 7)