09.07.2021

Unsichtbares Gepäck begeisternd sichtbar gemacht

Der Zeidner Wunderkreis wurde nach dem Ersten Weltkrieg am Schulfestplatz angelegt und bis 1990 jährlich beim Schulfest beschritten. Die Tradition wird bei den Zeidner Treffen in Deutschland fortgeführt. Aufnahme aus dem Jahr 1978, Wilhelm Roth

Denkwürdige zwanzig „Zeidner Denkwürdigkeiten“

Beim Erarbeiten der Informationsbroschüre für das nach Zeiden benannte Zimmer im Siebenbürgischen Kultur- und Begegnungszentrum „Schloss Horneck“ fiel auf, dass es kein Dorf, keine siebenbürgischsächsische Marktgemeinde, auch kaum eine größere Stadt gibt, die eine so reichhaltige Liste an Buchund Aufsatztiteln aufweisen kann, die ihre Kultur und Geschichte thematisieren. Die von Balduin Herter und Helmuth Mieskes 2004 publizierte „Bibliographie Zeiden“ erfasst nicht weniger als 874 Titel. Inzwischen sind zahlreiche weitere einschlägige Veröffentlichungen dazu gekommen, nicht zuletzt elf Bände der Buchreihe „Zeidner Denkwürdigkeiten“, die damit die stattliche Zahl von zwanzig „Beiträgen zur Geschichte und Heimatkunde von Zeiden“ (Untertitel der Reihe) erreicht hat.

Die genannte Bibliographie selbst, der zehnte Band der „Zeidner Denkwürdigkeiten“ (fortan: ZD), dokumentiert einen Rekord: Sie ist, wie Dr. Helmut Kelp seinerzeit festgestellt hat, die „erste Bibliographie einer siebenbürgisch-sächsischen Ortschaft“ (Siebenbürgische Zeitung vom 15. Dezember 2004, S. 11). Weitere „Rekorde“ der Zeidnerinnen und Zeidner seien hier noch genannt, weil sie den publizistischen Erfolg der „Blumenstadt“ am Fuße des Zeidner Berges mit erklären und möglich machen: Sie gründeten bereits 1953 eine der ersten siebenbürgisch-sächsischen Heimatortsgemeinschaften in Deutschland, der sie den vertrauten, Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelnden Namen „Zeidner Nachbarschaft“ gaben; sie geben seit Weihnachten 1954 regelmäßig den Zeidner Gruß heraus, „weltweit das erste Heimatblatt einer siebenbürgisch-sächsischen Heimatortsgemeinschaft“, wie sie stolz auf ihrer Homepage www.zeiden.de feststellen; sie haben eine eigene „Stiftung Zeiden“, die wirtschaftliche und kulturelle Projekte in der Heimatstadt fördert; sie treffen sich seit 1998 regelmäßig im „Zeidner Ortsgeschichtlichen Gesprächskreis“, um heimatkundliche Vorträge zu hören, um Dokumentationen zur Kultur und Geschichte dieser Stadt anzuregen und umzusetzen, etwa die Pflege eines fotografischen und Urkundenarchivs (zurzeit durch Udo Buhn), die Erfassung genealogischer Daten zur Hofgeschichte (durch Hugo Heitz) und der Kirchenmatrikeln (durch Dieter Kraus und Helmut Wenzel) oder die Sicherung und Publikation des „Communitäts-Verhandlungsprotokolls der Marktgemeinde Zeiden 1800-1866“ durch Liviu Cîmpeanu, Bernhard Heigl und Thomas Şindilariu (Kronstadt 2016), nicht zuletzt, um darüber zu befinden, welche Bücher in der Reihe ZD erscheinen sollen.

Die Initialzündung für alle diese und viele andere zur bleibenden Realität gewordenen Pläne kam von Balduin Herter (1926-2011), dem ersten Nachbarvater der Zeidner Nachbarschaft (zwischen 1953 und 1980), dem langjährigen Geschäftsführer des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde und des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats sowie Leiters der Siebenbürgischen Bibliothek, nicht nur einer Zeidner, sondern auch eine „sächsische Institution“ (Renate Kaiser im Nachruf, erschienen in der Siebenbürgischen Zeitung vom 31. Oktober 2011, S. 8). Die Vorhaben wurden weitergeführt und ausgebaut unter der Leitung seiner Nachfolger im Amt des Zeidner Nachbarvaters: Volkmar Kraus von 1980 bis 2003, Udo Buhn von 2003 bis 2012 und seither von Rainer Lehni, unter Mitwirkung von zahlreichen ehrenamtlich arbeitenden Zeidnerinnen und Zeidnern.

Was steckt hinter einer solchen Fülle an Initiativen? Georg Aescht hat das, finde ich, 2006 in seinem Vorwort zum 12. Band der „Zeidner Denkwürdigkeiten“ pointiert ausgedrückt: „Hier hat einer seine Begeisterung in Buchform gebracht in der Hoffnung, andere zu begeistern für einen Schatz, den eigentlich jeder besitzt, leider meist ohne ihn als solchen zu achten.“ Er bezog sich konkret auf Hans Wenzel, den Sammler des Zeidner Wortschatzes, doch gilt die Aussage ebenso für alle Initiatoren, Autoren und Helfer, die sich seit nunmehr 68 Jahren in Deutschland um die Bewahrung und Weiterentwicklung jenes Schatzes bemühen, den sie aus ihrer Heimatstadt mitgenommen haben: das historische und kulturelle Erbe von Zeiden, das unsichtbare Gepäck, das jeder Bewohner aus seiner Heimat in die Welt mitgenommen hat.

„Im Jahre 1983“ – berichtet Balduin Herter – „beschloss die Zeidner Nachbarschaft, eine Schriftenreihe herauszugeben, die den Namen ‚Zeidner Denkwürdigkeiten – Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde von Zeiden‘ erhielt. Wir hatten diesen Reihentitel gewählt, weil wir an die ‚Zeidner Denkwürdigkeiten‘ von Pfarrer Joseph Dück von 1877 anknüpfen wollten, die von 1917 bis 1926 durch Pfarrer Johannes Reichart und 1937 durch Misch Foith Fortsetzungen fanden.“ Traditionsbewusstsein drückte sich demnach bereits in der Wahl des Reihentitels aus. Das damalige Ziel: nach dem Beispiel der von Ernst Wagner herausgegebenen „Beiträge zur Geschichte der Stadt Bistritz“ (6 Bände) Unterlagen für eine „Gemeindechronik“ zu sammeln und Zwischenergebnisse zu veröffentlichen.

Die geplante Ortsmonographie hat Georg Gotthelf Zell in den 1970er- und 1980er-Jahren vor Ort, in Zeiden, erarbeitet, sie konnte aber wegen der wechselhaften Politik des kommunistischen Regimes in Rumänien erst 1994 unter dem Titel „Zeiden. Eine Stadt im Burzenland. Heimatbuch einer siebenbürgischen Gemeinde“ im Verlag Wort und Welt, Thaur bei Innsbruck, erscheinen. Eine Ortsmonografie kann nie alle Aspekte des Lebens und Schaffens in einer Gemeinde erschöpfend behandeln, im besten Fall alle berücksichtigen und – nach Sachbereichen gegliedert – überzeugend zusammenfassen. Detailuntersuchungen und -darstellungen, neue Themen und Fragestellungen, neue Geschichtsquellen ergänzen eine Ortsmonografie, halten das Interesse an der Vergangenheit wach, illustrieren sie mit zahlreichen Abbildungen und mit Geschichten, die sozusagen aus dem früheren Leben gegriffen sind. Wichtig ist dabei vor allem, dem Vergessen entgegenzutreten, denn es ist – schrieb Paul Meedt, Autor des ersten Bandes der ZD, „eine unleugbare Wahrheit, dass das Leben eines Volkes überall da ausstirbt, wo einmal das Licht der alten Erinnerungen an der Vorfahren Wollen und Streben, Tun und Leiden zu erlöschen beginnt.“

Welche ‚unsichtbaren Gepäckstücke‘ wurden in den bislang zwanzig Bänden der „Zeidner Denkwürdigkeiten“ hervorgeholt und der Erinnerung der heutigen Zeidnerinnen und Zeidner zurückgegeben? Offensichtlich war und ist der Bedarf besonders groß, kurze und kompakte Übersichten über die Gesamtentwicklung des Ortes zu lesen. Geliefert wurden sie in drei unterschiedlich strukturierten Bänden (ZD Nr. 13, 15 und 17) von Gernot Nussbächer, Balduin Herter und Rainer Lehni, die eine große Vielfalt an Informationen zur Geschichte, Siedlungsstruktur und Verwaltung, Gemeinschaftsleben und Kultur von Zeiden zusammengetragen, aufgearbeitet und allgemeinverständlich dargestellt haben. Vom Bemühen der Zeidner Nachbarschaft um gute Zusammenarbeit mit den heutigen Bewohnern ihrer Heimatstadt, die auf der Vermittlung von fundierten Kenntnissen der Vergangenheit beruht und dadurch zum gegenseitigen Verständnis wesentlich beiträgt, zeugt die zweisprachige, deutsche und rumänische „Kurze Chronik“ von Rainer Lehni (ZD Nr. 15). Diese Bände sind reichhaltig bebildert. Ergänzt werden sie durch die „Grüße aus der Heimat“ von Udo Buhn und Balduin Herter (ZD Nr. 6), einem Bildband, der die Entwicklung Zeidens anhand von Ansichtskarten aus den letzten hundert Jahren illustriert und dokumentiert. Eine weitere Ergänzung bilden die Biografien von herausragenden Zeidner Persönlichkeiten von Helmuth Mieskes (ZD Nr. 16/1). Die wirtschaftliche Entwicklung von Zeiden thematisieren drei Bände, verfasst von Paul Meedt über die ökonomische Lage im 19. Jahrhundert, der Nachdruck eines 1890 gehaltenen Vortrags (ZD Nr. 1) und von Erhard Kraus über die Landwirtschaft (ZD Nr. 9) sowie über einen für Zeiden typischen Wirtschaftszweig, den Gartenbau (ZD Nr. 4). Nicht weniger als vier Publikationen sind den Bereichen Kunst und Kultur zuzuordnen: Gotthelf Zells Dokumentation zur hundertjährigen Geschichte des Zeidner Männerchors (ZD Nr. 3), Franz Buhns umfassende Darstellung des Musiklebens (ZD Nr. 20), Brigitte Stephanis Monografie über den Maler Eduard Morres (ZD Nr. 11) und Franz Buhns Sammlung über das Laientheater in Zeiden (ZD Nr. 14). Eine Besonderheit bildet Hans Wenzels „Wörterbuch der siebenbürgisch- sächsischen Mundart aus Zeiden“ (ZD Nr. 12, mit zwei Ergänzungsbänden): Es ist, neben dem „Treppener Wörterbuch“ von Friedrich Krauß (1970) und Otto Gliebes „Wörterbuch der Brenndörfer Mundart“ (2015), eines der ganz seltenen Verzeichnisse eines lokalen siebenbürgisch- sächsischen Wortschatzes; es erfasst und dokumentiert für die Nachwelt die unverwechselbare, „singende und klingende“ Mundart der Zeidnerinnen und Zeidner. Auch andere Bände enthalten viele mundartliche Texte über Alltägliches und Anekdotisches, über Lebensart und Brauchtum. Zum Bereich der Überlieferung dessen, was in Zeiden erzählt wurde, gehört auch der Nachdruck der „Burzenländer Sagen und Ortsgeschichten“ von Friedrich Reimesch (ZD Nr. 2).

20 Heftchen und Bücher sind in der Reihe Zeidner Denkwürdigkeiten erschienen mit
unterschiedlichen Themen.

Neben den Übersichtsdarstellungen und jenen über das kulturelle Leben in Zeiden widmen sich vor allem zwei Bände dem vielfältigen Vereinsleben in Zeiden: Anhand ihrer Protokolle aus den Jahren 1891-1990 sowie zahlreicher Abbildungen haben Hermann Kassnel und Carmen Kraus die Tätigkeit der Zeidner Freiwilligen Feuerwehr nachgezeichnet (ZD Nr. 7); einen Überblick über die Tätigkeit der Zeidner Nachbarschaft bietet Hans Königes anlässlich ihres 50. Jubiläums (ZD Nr. 8).

Über die sportliche Betätigung berichten drei Bände, die auch viel über die Lebensfreude und das Gemeinschaftsleben der Zeidnerinnen und Zeidner aussagen: Einen allgemeinen Überblick von Erwin Mieskes und Günther Wagner (ZD Nr. 5) ergänzen die „Zeidner Wanderwege“ von Hans Wenzel (ZD Nr. 18) und „Das Zeidner Waldbad“ von Helmuth Mieskes (ZD Nr. 19). Das in ganz Siebenbürgen bekannte Waldbad wurde auf Initiative des Zeidner Verschönerungsvereins errichtet.

Durchwegs handelt es sich um Arbeiten, die auf umfangreicher, sachkundiger Recherche beruhen, anschaulich geschrieben wurden, faktenreich und detailliert unterschiedliche Arbeits- und Lebensbereiche einer Burzenländer Gemeinde schildern, aber keine reine Lokalgeschichte beinhalten, sondern ein im Laufe der Jahrhunderte gewachsenes Gemeinwesen mit seinen vielfältigen Facetten im gesamtsiebenbürgischen Kontext schildern. Als Herausgeber dieser Buchreihe werden oft die jeweiligen Nachbarväter (Balduin Herter, Volkmar Kraus, Udo Buhn, Rainer Lehni) genannt, ehrenamtlich und kompetent von Georg Aescht, Peter Hedwig, Helmuth Mieskes und Joseph Fr. Wiener unterstützt. Nicht zuletzt sind die hervorragende graphische Aufmachung sowie die reichhaltige und vielsagende Illustration der meisten Bände zu erwähnen. Darum hat sich vor allem die Wahl- Zeidnerin Carmen Kraus (Landsberg/Lech) sehr verdient gemacht.

Denkwürdig sind die „Denkwürdigkeiten“ auch aus einem weiteren Grund: Insgesamt sechs Bände wurden auch in rumänischer Sprache veröffentlicht und liegen nun unter anderen in der Stadtbibliothek von Zeiden zur Lektüre bereit, neben der zweisprachigen Chronik von Rainer Lehni (ZD Nr. 15) auch der erste unter diesem Titel veröffentlichte Band von Josef Dück aus dem Jahr 1877 sowie die Bände Nr. 2, 3, 4, 13 und 16. Deutlicher kann man den von Balduin Herter stets geäußerten Wunsch, für Völkerverständigung, Aufklärung, gegenseitige Toleranz und Zusammenarbeit mit den heute die Mehrheit bildenden Bewohnern von Zeiden zu wirken, nicht in die Tat umsetzen!

Es ist allen bislang zwanzig „Zeidner Denkwürdigkeiten“ gelungen, das Leben und Wirken in dieser Gemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte authentisch festzuhalten, den Jüngeren näher zu bringen und den heutigen Bewohnern bekannt zu machen. Unsichtbares Gepäck, das jeder aus seiner Heimat mitgenommen hat, wurde sichtbar gemacht, Unbekanntes herausgefunden und ans Licht gebracht. Ein „Weiter so!“ kann man nicht allein den Zeidnern, vielmehr allen an Siebenbürgens Kultur und Geschichte Interessierten wünschen.

Konrad Gündisch

Quelle: Siebenbürgische Zeitung, Folge 10 vom 22. Juni 2021, Seite 1 und 6

Die Buchtitel und die Preise können eingesehen werden unter zeiden. de/veroeffentlichungen/zeidner-denk wuerdigkeiten/.

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