25.07.2019

Die Deportation meiner Eltern (Irene und Hans Gross) nach Russland im Januar 1945.

Aus meinen Erinnerungen und deren meiner Eltern.

 

Teil 1

- Aushebung und  die Fahrt bis zum Bestimmungsort -

 

Nachdem am 23. August 1944 Rumänien aus dem Bündnis mit dem deutschen Reich ausgetreten war, ahnte man schon, dass nun unangenehme Zeiten für die sächsische (deutsche) Bevölkerung aus Rumänien anbrachen.

Die "Russischen Truppen" rückten in Rumänien immer tiefer nach Westen vor. Auch in Zeiden wurden kleinere Einheiten (Brigaden) kurzfristig einquartiert. Auf unserem Hof in der Apfelgasse wurde vorübergehend eine Schneiderei eingerichtet. In der deutschen Schule wurde eine Art Kantine für die russischen Soldaten bereitgestellt, hier befand sich auch die russische Kommandantur. Da meine Mutter hier freiwilligen Arbeitsdienst leistete, durften wir Kinder auch manchmal dort frühstücken, es gab nämlich Milchkaffee.

Der Spätherbst näherte sich, der letzte deutsche Widerstand im Banat und dem Sathmar-Maramuresch- Gebiet wurde gebrochen, hier kämpfte die Division Siebenbürgen unter dem Kommando von Obergruppenführer General Arthur Phleps (ein Siebenb. Sachse), ganz Rumänien war nun von russischen Truppen besetzt.

Gegen Ende des Jahres 1944 verbreitete sich immer mehr das Gerücht von der Verschleppung (Aushebung) der deutschen Bevölkerung für den Wiederaufbau in die Sowjetunion, man wollte es nicht glauben, man hoffte, es würde sich um irgendeinen Arbeitsdienst in Rumänien handeln.

Die Ereignisse überstürzten sich von einem Tag auf den andern: Waffen, Radioapparate, Fotoap-  parate, Kraftfahrzeuge, Fahrräder mussten abgeliefert werden, sogar Nähmaschinen wurden beschlagnahmt. Hausdurchsuchungen waren auf der Tagesordnung. Es kam gelegentlich vor, dass einige Sachsen versprengten deutschen Soldaten  unter Gefährdung der eigenen Sicherheit, Hilfe und Unterkunft gaben.  Ein Beispiel aus Zeiden: zwei Frauen (Anne Stolz u. Rosa Stoof)  aus unserer Nachbarschaft hielten einen deutschen Offizier auf dem Dachboden versteckt, sie wurden verraten und in der Nacht von rumänischen und russischen Soldaten verhaftet. Die Frauen verurteilte man für 2 Jahre Gefängnis, der deutsche Offizier kam wahrscheinlich in russische Gefangenschaft ?).

Da es hier um die Deportation meiner Eltern geht, muss ich einiges über meinen Vater berichten:

Von Anfang an war er Soldat in der rumänischen Armee und im Krieg an der Ostfront  von 1941 bis Mai 1944 und zwar im südlichen Abschnitt, Halbinsel Krim bis Kaukasus. Im Frühjahr 1944 eroberten die russischen Truppen nach schweren Kämpfen mit großen Verlusten an Mensch und Material auf beiden Seiten die Krim zurück.

Mein Vater hatte Glück u. wurde mit anderen Kameraden auf einem Evakuierungsschiff aus einem kleinen Hafen "Chersones" bei Sewastopol über das schwarze Meer nach Konstanza gebracht. Von hier aus fuhren sie mit dem Zug zurück in die Garnison nach Zeiden, anschließend wurden sie auf Abruf nach Hause entlassen, der Krieg war für sie vorbei.

Nun, der Januar 1945 brach an und das Gerücht mit der Verschleppung (Deportation) sollte sich bewahrheiten. Unter den Deutschen des Sathmar-Gebiets hatten die Deportationen schon am 2. und 3. Januar begonnen. Nachdem die Aktion in der Nacht vom 10. zum 11. Januar in Kronstadt und Bukarest angelaufen war, setzten die Aushebungen fast schlagartig im ganzen Lande ein.

Zeiden war am 13. und 14. Januar an der Reihe.

 Auf Grund der im Spätherbst durchgeführten Registrierungen seitens des Bürgermeisteramtes (Aufstellung des deutschen Nationalkatasters von 1941, angeordnet damals von Andreas Schmidt ?) wurden Listen der Deutschen zusammengestellt, welche in die zur Deportation vorgesehenen Alters-klassen  fielen: Männer von 17 bis 45, Frauen von 18 bis 30 Jahren; Übergriffe nach oben und unten waren häufig.

Um das Flüchten zu verhindern wurden ab dem 10. Januar die Ortsausgänge vielfach durch Polizei, Militär oder auch rumänische Freiwillige abgesperrt. Um der Deportation zu entkommen, versteckten sich doch einige innerhalb der Ortschaft (Zeiden) oder auch außerhalb. Wurde der Betroffene nicht ausfindig gemacht, musste halt wahllos eine andere Person daran glauben, das Alter spielte dann keine Rolle mehr, die vorgesehene Anzahl der Ausgehobenen musste stimmen.

So sollte es meiner Großmutter ergehen.

Meinen Vater mit seinen sächsischen Kameraden die an der Ostfront gekämpft hatten, wurden noch vor diesen schrecklichen Tagen um den 5 /6 Januar vom Oberst der 2. Gebirgs-Artillerie -Division aus Zeiden in die Kaserne berufen, mit dem Argument, diejenigen Deutschen die in der rumänischen Armee gedient hatten, werden nicht ausgehoben, sie wurden mit Militär- Uniformen angekleidet und waren dementsprechend wieder rumänische Soldaten. Sie konnten sich frei bewegen auch außerhalb der  Kaserne, der Oberst gab ihnen aber den Rat, sich mehr in der Garnison (Kaserne) aufzuhalten, was sie auch taten. (sie waren ja ab dem 23. Aug. 44 Verbündete mit den russischen Truppen). Die Tatsache, mit dem, nicht ausgehoben zu werden relativierte sich  zwei Wochen später. Es kam der Befehl, dass selbst die noch in der rumänischen Armee dienenden Deutschen, ausgehoben werden sollten.

Mein Vater vertraute der Aussage seines Vorgesetzten. Konnte aber nicht hinnehmen, dass seine Frau, (meine Mutter) bzw. Mutter von zwei minderjährigen Kindern, ich, Werner noch nicht 6 Jahre alt und mein Bruder Kurt noch nicht 4 Jahre alt,  deportiert werden sollte. Folge: meine Mutter musste von zu Hause, aus der Apfelgasse 1012, so schnell wie möglich verschwinden, mitsamt den Kindern. (schwangere Frauen und Frauen mit Kindern unter 3 Jahren wurden nicht ausgehoben) Einige Zeidner Männer unter denen auch mein Vater war, hatten ein  Versteck ausfindig gemacht und auch gefunden, wo sich einige Personen bis zum Abschluss der Aktion "Aushebung" aufhalten konnten. Das Versteck befand sich in der Neugasse auf einem sächsischen Hof in der Scheune. Hier existierte ein damals stillgelegter  Eiskeller, von dem wenige Personen Kenntnis hatten. Der Eiskeller lag sehr tief, sozusagen unter der Scheune. Er wurde mit viel Stroh, Decken, Lebensmittel, Wasser und einiges mehr ausgestattet und weiter so eingerichtet, dass von außen und aus der Scheune selbst, nichts zu erkennen war.

Am 8. oder 9.? Januar gingen wir (meine Mutter, ich und mein Bruder)  mit unserem Vater bei Nacht und Nebel in die Neugasse in das Versteck. Mein Vater ging zurück in die Kaserne. Für uns Kinder war das damals ein ganz besonderes Erlebnis, dass nur eine Nacht und einen Tag anhielt.  Das Risiko, das Versteck wird entdeckt wegen dem Geräusch und Lärm, welches von den Kindern ausging, war zu groß. Folglich wurden wir (ich und mein Bruder) am nächsten Tag abends wieder bei Dunkelheit zurück zu den Großeltern in die Apfelgasse gebracht.

Der 13. Januar 1945 war der Schicksalstag für Zeiden, durch die Gemeinde gingen gemischte rumänisch-sowjetische Patrouillen (Spähtrupps) von Haus zu Haus, um die Betroffenen laut Liste auszuheben. In unser Haus kamen: zwei rumänische Soldaten mit aufgepflanztem Gewehr, ein russischer Soldat und ein rumänischer Zivillist mit einem roten Band am Arm und in der Hand eine Liste, welche den Namen von meiner Mutter enthielt, sie sollte eben ausgehoben werden. Sie war aber nicht zu Hause. Diese 4 Personen vor allem der mit dem roten Band machten ernst, sie stellten meinem Großvater ein Ultimatum: sollte meine Mutter (Großvaters Tochter) sich in kürzester Zeit, spätestens einen Tag darauf, nicht melden, würden sie die Großmutter (62 J.)  mitnehmen. Nun lief unser Großvater in die Kaserne wo sich mein Vater aufhielt und erzählte ihm was zu Hause ablief.  Nach Absprache mit seinem Vorgesetzten "Oberst der 2.G.A.D." ging mein Vater noch in die Schule wo sich das russische Kommando befand, um das Streichen meiner Mutter von der Liste zu erlangen, schließlich war er noch in der rumänischen Armee. Die Genossen wollten davon nichts wissen, sagten nur die Listen hätten nicht sie erstellt. Zurück in die Kaserne: hier konnte der Oberst ihm nicht weiter helfen, wurde aber sofort vom Militär endgültig entlassen. (Der Befehl, von dem ich oben gesprochen habe, war schon in der Kaserne eingegangen aber noch nicht  veröffentlicht).  Die rumänische Uniform wurde mit der Zivilbekleidung eingetauscht und so war mein Vater nun nach fast 5 Jahren wieder ein freier Bürger.

Die Zeit drängte, in höchster Eile holte mein Vater seine Frau (unsere Mutter) aus dem Versteck, denn in der Apfelgasse warteten die vier Genossen schon ungeduldig auf sie. Auf dem Heimweg nach Hause entschied sich mein Vater mit seiner Frau ins Ungewisse mitzugehen. Unter Aufsicht der Genossen wurden noch einige Sachen in einen Koffer gepackt wobei anschließend der bittere Abschied von uns Kindern und den Großeltern folgte.

Weiter schildere ich nun diesen traurigen Moment aus meiner damaligen Sicht.             

Wenn ich an diesen 13 Januar 1945 , es sind 74 Jahre, zurückdenke sehe ich immer wieder ein Bild vor meinen Augen: In einer Ecke des Wohnzimmers auf je einem kleinen Stühlchen saß ich und mein Bruder, gegenüber, in der nähe der Türe standen die 4 Personen von der Patrouille, zwei von ihnen, die Soldaten, mit aufgepflanzten Gewehren. In der Mitte des Zimmers packten meine Mutter und mein Vater den Koffer. Auf je einem Stuhl saßen meine Großeltern und weinten, vor allem die Großmutter, kein Wunder, wenn zwei Schwiegersöhne und die Tochter ausgehoben werden und das  genaue Ziel und die Dauer der Verschleppung zu der Zeit noch nicht bekannt war und ob es überhaupt noch eine Rückkehr gibt. Der Abschied muss fürchterlich gewesen sein. Wir beiden Jungs hatten damals den Ernst der Sache noch nicht erkannt, es war für uns alles so unverständlich. Erst einige Tage später hatten wir so richtig begriffen das unsere Mutter nicht mehr bei uns war: In der Früh beim Aufwachen, beim Frühstücken, Tagsüber, beim Schlafen gehen, in der Nacht usw. Es dauerte eine längere Zeit bis wir uns an diese außergewöhnliche Situation eingewöhnt hatten. Die Großeltern von beiden Seiten taten ihr bestes um unser Wohl so schön wie möglich zu gestalten. Einen Tag darauf schickte uns (mich u. meinen Bruder) die Großmutter zum Friseur, obwohl es bitter kalt war, in die Müllgasse zum Herrn Kassnel. (Kassnelbeutschui). Der Grund war, aus meiner heutigen Sicht, wahrscheinlich, dass sie, die Großeltern einen Moment alleine sein wollten um in Ruhe über das ganze Geschehen zu sprechen und zu sich selbst zu finden, bzw. die ganze Tragödie zu verarbeiten.        

In Begleitung der Patrouille gingen nun meine Eltern zur Melde- und Sammelstelle, von hier aus wurden sie auf offenen LKW zum Güterbahnhof nach Kronstadt gefahren. Hier standen Vieh- Waggons bereit, in welche je 40 Personen, Männer und Frauen zusammen in einen Waggon verladen wurden, wobei er anschließend von den Soldaten von außen geschlossen und verriegelt wurde.

Im Inneren des Waggons, in der Mitte, stand ein kleiner Eisenofen, um ihn herum lagen teilweise verstreut, teilweise in Haufen, Bretter. Aus diesen Brettern wurde in eigener Regie eine Art Liegepritschen zusammengebastelt, auf welche man sich hinlegen konnte. Wegen dem spärlichen Platz im Waggon und den unzureichenden Liegepritschen konnte man sich nur in Schichten hinlegen, etwa 4 Std. täglich pro Person. 

Ab jetzt wurde es meinem Vater und meiner Mutter bzw. den Ausgehobenen klar, dass sie eine längere Reise antraten, eine Reise von der viele nicht mehr zurückkehrten.

Der Weg führte von Kronstadt nach Jassy (Kischinew), hier im Bahnhof wurden die Deportierten in russische Viehwagons wegen der Breitspur umgeladen. Nun mussten die Pritschen aus dem  rumänischen Wagon abmontiert und in den russischen Wagons eingerichtet werden, diese Arbeit dauerte einen ganzen Tag, wobei der Zug vom russischem Militär umstellt war, um so eventuelle Fluchtversuche zu verhindern. Hier am Bahnhof tauschten einige russische Offiziere russisches Geld (Rubel) in rumänisches Geld um. Der Wechselkurs war  meinen Eltern und denjenigen die noch Geld tauschten egal, denn sie wussten nun, dass die Reise nach Russland geht, wo man mit rumänischem Geld nichts anfangen kann. Am späten Abend ging die Fahrt in den russischen Wagons bei klirrender Kälte (-20°) Richtung Osten weiter. Die Fahrt war alles andere als angenehm: kein Licht, auch tagsüber drang nur schwaches Tageslicht durch die kleinen vergitterten Fenster, die Verpflegung war sehr schlecht, die Vorräte aus dem eigenen Koffer waren bald aufgebraucht. Ein großes Problem war die Versorgung mit Trinkwasser, geschweige denn mit Wasser zum Waschen. Die Feldflaschen, soweit vorhanden, waren bald leer. Einigen Männern gelang es durch das Gitterfenster, vom Dach des Wagon herabhängende Eiszapfen zu  brechen, doch dass waren nur Tropfen mit denen man nicht viel anfangen konnte. Ab und zu konnten während den Fahrtpausen in Bahnhöfen, einige, unter Aufsicht, den Wagon verlassen und Wasser von Brunnen holen, ausreichend warme Bekleidung hatte auch nicht jeder und jede. Toiletten  gab es im Viehwagen natürlich auch nicht: Einer von den vielen jungen Männer hatte eine kleines Beil (Axt) im Koffer, der kurz entschlossen ein Loch in den Boden vom Wagon schlug, so dass die meisten ihre Notdurft dort verrichten konnten. Angenehm war das natürlich nicht, vor allem wenn es während der Fahrt geschah, der Wind und der Sog brachte das meiste Zeug retour in den Wagon.

Von Zeit zu Zeit hielt der Zug, bei eisiger Kälte (-20° u. mehr), die Schiebetüren der Wagons wurden geöffnet und die Zwangs-deportierten unter denen meine Eltern, durften raus auf das freie Feld. Unter Aufsicht der  Wachmannschaft, welche einen begrenzten Raum umstellten, konnten auch  diejenigen die im Wagon keine Möglichkeit hatten, gemeinsam unter strenger Aufsicht ihre Notdurft verrichten.

Die seelische und psychische Belastung jedes Einzelnen war sehr unterschiedlich, die Trostlosigkeit wirkte verschieden auf die Gemüter jedes einzelnen, vor allem weil die Situation völlig undurchsichtig war: viele hatten Angst und Furcht-Zustände, viele waren müde und erschöpft, andere konnten die Kälte ganz schwer ertragen. Heimweh und große Sorgen hatte fast jeder und jede: wie geht es den Kinder, den Eltern, Geschwister zu Hause, wird man sie irgendwann wieder sehen? Das Schreckliche der Deportation drang den Betroffenen immer mehr ins Bewusstsein.

Nach drei Wochen Zugfahrt kamen sie im Donezgebiet, im Kohlenpott der Ukraine zum Bestimmungsort in Parkamuna heute Perevalsk an. Sie wurden in ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager (Internierungslager) teilweise ohne Fenster bei klirrender Kälte und mit Stacheldraht umgeben, untergebracht.

Was hier noch zu erwähnen ist: viele russische Zivilisten (Einheimische), meist Frauen und Kinder hatten sich in der Nähe der Waggons angesammelt, natürlich nicht um die Ankommenden zu begrüßen, sondern, nach dem die Waggons leer waren, stürmten sie in die Waggons und suchten nach Kleidung aber vor allem nach Lebensmittel. Jede eventuell übriggebliebene Kruste Brot wurde aufgesammelt. Es war die erste Erfahrung der Verschleppten nach der Ankunft: Hungersnot, mit der sie auch  ganz schnell Bekanntschaft machen sollten.

Wie es nun weiter ging als Zwangs- Deportierte, bei meiner Mutter 2 Jahre , bei meinem Vater 4 Jahre lang, steht in einem anderen Kapitel.

Die Bilanz der Deportation aus meiner nahen Verwandtschaft: Onkel Georg der Bruder meines Vaters gestorben (verhungert) in Nikanor im Kohlepott; der Vater von meiner Frau wegen schlechter Ernährung erkrankt und verstorben in Maiakeevka;  Onkel Christian der Schwager von meiner Mutter als Krüppel heimgekehrt, im Kohlebergwerk bei einer Sprengung den linken Fuß ab dem Oberschenkel verloren; meine Kusine Rosi mit 17 Jahren verschleppt, schwerkrank heimgekehrt und nach kurzer Zeit verstorben.

 

Januar 2019

Bietigheim-Bissingen 

Werner Gross