22.12.2017

Das letzte Mammut oder „Ein etwas anderes Bekenntnis zu Zeiden“

Keine Angst, es geht hier nicht, wie es die Überschrift vielleicht vermuten lassen könnte, um eine verspätete Rezension zum gleichnamigen Buch. Ich dachte mir lediglich, 38 Jahre der Gleichgültigkeit müssen endlich ein Ende haben. Mein bisheriges Desinteresse an meinem Herkunftsort konnte nämlich nur noch durch das Wort „Leichenstarre“ getoppt werden. Die Notwendigkeit diesen Zustand zu ändern, wurde mir in den letzten wenigen Jahren und Monaten jedoch immer mehr bewusst. Ob diese Wende nun an einer möglicherweise langsam einsetzenden Alterssenilität lag oder auf eine geänderte persönliche Gehirnchemie zurückzuführen ist, kann ich nicht genau sagen. Letztendlich zählt ja auch nur, dass der Zündfunke wirksam geworden ist und ich in die Gänge kam, mich wieder etwas mehr mit meiner ursprünglichen Heimat zu befassen. Dabei wurde mir dann auch immer deutlicher klar, welche Defizite sich diesbezüglich in den vielen Jahren der Gleichgültigkeit bei mir angesammelt haben.

Und so kam mir spontan die Frage in den Sinn, was denn passieren würde, wenn sich jeder so verhält, wie ich. Wenn also jeder Zeidner irgendwann einmal denkt, dass der zurückgelassene Geburtsort kaum noch einen Gedanken wert ist. Unsere Zukunft liegt ja schließlich vor uns und da schaut man eher nicht zurück. Die Antwort war genauso einfach, wie spontan. Zumindest auf mein persönliches Leben hätte dieses gar keine Auswirkungen – absolut keine. Alles würde es so weitergehen, wie bisher auch. Nichts würde sich in meinem Leben ändern, nichts würde aus dem Gleichgewicht geraten.

Ich war etwas überrascht und nahm einen zweiten Denkanlauf. Das Ergebnis blieb jedoch das gleiche. An sich hätte ich mich jetzt beruhigt zurücklehnen und zu mir sagen können: „Na, siehst du, du hast bisher also alles richtig gemacht – weiter so!“ Aber irgendwie war mir nicht danach. Die gewonnene Erkenntnis stimmte mich eher traurig, und etwas erschrocken war ich auch. Wir Menschen sind nun mal nicht nur logisch und präzise vorgehende Individuen, bar jeder Gefühlsregung, sondern emotionale Wesen. Diese Emotionsäußerungen sind es ja vorwiegend auch, die unseren Charakter offenbaren und uns Menschen untereinander liebenswert machen, oder eben auch nicht. Und so entstand plötzlich die Notwendigkeit Stellung zu beziehen und zwar vor mir selber. Wenn ich also kein charaktergeschädigter Herkunftsignorant mehr sein wollte, den ich soeben in mir identifiziert hatte, dann bedurfte es einer Neuausrichtung meines Denkens und meiner Ansichten über den Ort, an dem ich die ersten zwölf Jahre meines Lebens verbracht habe. Es bedurfte so etwas wie eines Bekenntnisses.

Warum also das Bekenntnis zu Zeiden? Sind wir Zeidner denn wirklich so wichtig für diesen Planeten? Waren wir etwa an der Mondlandung beteiligt? Oder waren wir jemals die territoriale Atommacht des Burzenlandes? Wobei, manch Zeidner Dickschädel hat durchaus das Potenzial dazu, bei einer Diskussion argumentativ eine vergleichbare Detonationswucht entfalten zu können. Und wenn du dann einen Disput gegen solch einen Sprengkopf verlierst, dann fühlst du dich plötzlich wie ein verbranntes Mici in der Zeidner Waldbadluft.

 Also nochmal, warum ist es denn so wichtig, sich um seine Wurzeln zu kümmern - hier, speziell um Zeiden? Kennt ihr noch die Mammuts? Nein, natürlich nicht persönlich, da wir erdzeitgeschichtlich zu weit auseinanderliegen. Aber trotzdem wissen wir von ihnen -  zumindest ein bisschen was. Und warum sind diese ausgestorben? Klimawandel, Jagdquotenüberschreitung der Urzeitmenschen oder sind sie gar die ersten Opfer eines prähistorischen Eurokratiemolochs geworden, welcher ihre Population durch blinde Verordnungen und Erlasse  wegreguliert hat? Nun ja, keine Ahnung. Und genau dieses „keine Ahnung“ werden wir Zeidner  irgendwann einmal mit den Mammuts gemeinsam haben. Wir werden ebenfalls aussterben, uns in den Westkulturen, welche wir bisher mehr oder weniger mit unserem Dasein beglückt haben, meistens schon in einer Generation assimilieren und wenn jemand dann eines Tages fragt, warum wir denn nicht mehr da sind, wird es ebenfalls heißen „Hmhh….keine Ahnung. Vielleicht waren sie ja alle einfach nur zu doof, ihrem Nachwuchs das Zeidner Wappen auf die Stirn tätowieren zu lassen“. Wollen wir Zeidner also lediglich ein dahinsiechendes  Nebenprojekt der Geschichte sein, welches mit „keine Ahnung“ endet und der letzte bekennende Zeidner macht dann die Türe oder besser noch, den Sargdeckel hinter sich zu? Auf seinem kollektiven Grabstein steht dann: „Sie sind alle ausgestorben und keiner weiß warum - am wenigsten sie selber“.

Kommt es einmal soweit oder so ähnlich, dann ist es vorbei mit uns, finito, aus die Maus. Wer wird also das letzte Mammut des Burzenlandes sein? Wessen Dickschädel ist durchschlagkräftig genug, um dafür zu sorgen, dass genau dieses nicht so schnell geschieht? Der sich dafür einsetzt, dass die einmalige und besondere Spezies der Zeidner erhalten bleibt, ohne dabei gleich unter Artenschutz gestellt werden zu müssen. Gibt es eigentlich so etwas, wie ein Zeidner Gen? Und wenn ja, wäre es denn nicht wunderbar, wenn sich dieses in einem starken Zusammenhalt und Überlebenswillen äußert?

Meine Kinder haben eher kein großes Interesse daran, sich mit diesem Thema intensiv auseinanderzusetzen, außer vielleicht meine mittlere Tochter. Diese wollte sogar einige Brocken Zeidnerisch lernen. Sie hat es dann aber aufgegeben, da dieses ein recht mühsames Unterfangen war. Für sie war es, wie eine neue Sprache, welche sie nicht so richtig einzuordnen wusste, weil diese doch zu merkwürdig klang. Wir einigten uns dann darauf, dass das Zeidner Sächsisch für sie wie „Deutsch mit Eselsohren“ klingt. Na toll, was für ein bescheidenes Kompliment. Auch meine Frau machte es nicht besser. Den Kampest hat sie mir spontan mit Kompost übersetzt und den Kakesch wollte sie schon mal gar nicht essen, weil sie dieses Wort zu stark an so etwas ähnliches  wie „Stuhlgang“ erinnerte. Das Kruedegaesken übersetzte sie mir mit Krutzengasse. Eine totale Sinnentstellung des Namens dieser wunderbaren Zeidner Gasse.

Als ich mich im letzten Sommer, nach den bereits erwähnten 38 Jahren Besuchsabstinenz, das erste Mal wieder nach Zeiden traute, hatte ich ein sehr interessantes Gespräch mit einem dortgebliebenen alten Zeidner -  ein sehr bemerkenswerter Mann. Er sagte mir knallhart ins Gesicht: „Sind wir doch mal ehrlich, eigentlich seid ihr hauptsächlich wegen des Wohlstandes nach Deutschland gezogen und habt uns hier alleine zurückgelassen. Aber uns, uns gibt es hier immer noch, auch wenn wir wenige sind. Und wir haben überlebt und kommen hier sehr gut zurecht – auch mit den Rumänen. Aber ihr, ihr kämpft inzwischen in Deutschland um eure eigene Identität als Deutsche, mit dem ganzen zunehmenden Multikulti um euch herum. Eure sächsische Identität, die habt ihr ja bereits schon so gut wie aufgegeben“.

Ich liebe ja klare Worte, diese sind wie ein frischer Wind für eingefahrene Sichtweisen. Ich dachte nach und konnte nur antworten: „Weißt du, wahrscheinlich liegst du bei vielen von uns Weggezogenen gar nicht mal so falsch. Tatsächlich war der Sog, welchen der „goldene Westen“ damals auf uns alle ausgeübt hat, nahezu unwiderstehlich. Es war ein Abenteuer, ein vielversprechender Neuanfang. Und was den Kampf um die deutsche Identität betrifft, so ist die Situation inzwischen in der Tat etwas diffiziler und damit durchaus auch schwieriger geworden“.n

Bild: Gert L. 2017
Bild: Gert L. 2017

Mittlerweile war es bereits dunkel. Ich nahm unseren Hund an die Leine und zusammen mit meiner Frau wollten wir im Park beim Lyzeum spazierengehen. Dabei steckte ich auch mein Pfefferspray ein. Mein dagebliebener Zeidner fragte mich, was ich denn damit will. „Nun“, sagte ich -  „damit gedenke ich uns alle zu schützen, falls wir im Park überfallen werden“. Er lachte laut und witzelte: „So ein Schmarrn. Sowas brauchst du hier in Zeiden nicht. Die Verbrecher haben wir alle zu euch nach Deutschland geschickt“. Ich lachte gezwungen und wir zogen los – meine Frau, der Hund und ich. Ich fühlte mich dabei etwas angespannt und schämte mich nach seiner letzten Bemerkung ein bisschen. Es war so, als ob ich die Hundeleine jetzt plötzlich selber um den Hals gehabt hätte. Und selbstverständlich behielt er recht. Auch aus den dunkelsten Ecken sprang uns niemand an, um uns zu beklauen oder um uns unseren teuren kleinen Hund, zwecks einer Lösegeldforderung,  zu entführen.

Aber ich fing auch erneut an nachzudenken über uns Zeidner, über Volksgruppen, wie Nationen denken, wie sie leben und handeln, deren Selbstverständnis, u.s.w. Auch wenn der Vergleich etwas asymmetrisch ist – nämlich, eine Nation im Vergleich zu Zeiden, so ist das Endergebnis dennoch identisch. Kurz und bündig: Wer seine Identität schrittweise aufgibt, verschwindet als wahrnehmbare Volksgruppe von der Bildfläche! Er wird verdrängt durch andere Gruppen, welche dieses Vakuum, dieses Loch, dann ausfüllen. Das ist sowohl ein physikalisches, als auch so etwas wie ein geschichtliches Naturgesetz, welches wiederum niemand ernsthaft bestreiten kann.

Die zunehmenden Einschränkungen bei der eigenen, persönlichen freien Meinungsäußerung in einem kommunistischen Land, hatten viele von uns dazu bewogen, der alten Heimat Tschüß zu sagen. Interessant, dass hier inzwischen wieder ähnliche Tendenzen beobachtbar sind. Meine Kinder sind noch zu jung, um Vergleiche anstellen zu können. Ich versuche ihnen bewusst Geschichte zu vermitteln und sie an meinen gesammelten Erfahrungen teilhaben zu lassen. Dazu gehören auch die Erlebnisse in Zeiden. Und natürlich ebenso wichtig die kontinuierlichen Veränderung in diesem Land und den europäischen Nachbarstaaten. Ob ich dieser Aufgabe richtig und in Gänze gerecht werde, weiß ich nicht. Ich versuche jedoch mein Bestes. Und ja, selbstverständlich gibt es immer Änderungen und nichts bleibt auf ewig gleich (deshalb nennt man es rückblickend ja auch Geschichte). Das ist so auch durchaus in Ordnung. Es geht somit also nur darum, ob das Endergebnis dieser Entwicklungen, denn auch "gesund" für uns alle ist.

Haben also auch solche sozialkritischen Themen bei uns Zeidnern Platz? Ich meine eindeutig, ja. Nach meinen Erfahrungen aus Gesprächen mit manch einem von uns, konnte ich bisher eine deutliche Unruhe erkennen, wenn solche Themen angesprochenen wurden. Es gibt also einen weiteren Grund, sich bewusst in der Zeidner Nachbarschaft einzubringen beziehungsweise das Organ "Zeidner Gruß" aktiv zu nutzen. Nämlich, das Führen von konstruktiven Diskussionen in Bezug auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und Europa, welche uns ganz persönlich betreffen, unsere Zukunft und Fortbestand als wahrnehmbare Volksgruppe und natürlich die Entwicklungen in Zeiden bzw. unserer alten Heimat insgesamt.  Wow, ein Themenkomplex, wie bei einer Doktorarbeit. Aber keine Sorge, in der täglichen Praxis läuft das alles viel unkomplizierter ab.

Die in diesem Beitrag von mir geäußerten Punkte entsprechen meiner persönlichen Meinung. Diese muss weder vollständig noch richtig sein. Sie leitet sich aus meinen Beobachtungen, meiner täglichen Arbeit und aus meinen bisherigen Erfahrungen ab. Andere Leser mögen andere Erfahrungen und Beobachtungen gemacht haben und können mir daher nicht zustimmen. Sehr gut, Widerspruch und Denkagilität sind Begriffe, welche ich sehr schätze und welche eine hervorragende Basis für tiefergehende Diskussionen bilden. Das Hauptziel solcher Gespräche oder (erwünschten) schriftlichen Beiträgen im Zeidner Gruß sollte es also sein,  Mittel und Wege zu finden, unser Andenken und unsere Bindung an Zeiden so lange wie nur möglich aktiv und lebendig zu erhalten und diese Aufgabe an die nächste Generation weiterzugeben. Dieses alles in einem gesellschaftlichen Umfeld, welches herausfordernden Änderungen unterworfen ist. Inzwischen tut sich nämlich ein Loch auf, da die Generation der „um die Fünfzigjährigen“ kaum noch wahrnehmbar beim Zeidner Gruß beziehungsweise der Zeidner Nachbarschaft vertreten ist. Wer übernimmt hier also in der nächsten Zeit, wenn es irgendwann einmal soweit ist, dass den jetzigen Aktiven altershalber das Gebiss auf die Tastatur fällt? Wer ist dann da, um die Zeidner Geschichte weiter fortzuschreiben? Vielleicht Du, der Du das hier liest und Dich bisher nicht aus der Deckung getraut hast? Sei also mutig, sei ein Mammut - aber niemals das letzte.     

Frieder Stolz

 

Eine Anmerkung aus dem Vorstand der Nachbarschaft: Wir würden uns sehr freuen, wenn sich  auch noch weitere Zeidnerinnen/Zeidner oder auch Nichtzeidner – vor allem der mittleren Generation - zu diesem Thema zu Wort melden würden, was ihnen ihr Herkunftsort oder der der Eltern bedeutet, ob und welche Rolle das Thema Heimat, Tradition,  Identität in der Familie spielt, ob und inwiefern man seine Herkunft eher als Ballast denn als Bereicherung empfindet, und, und, und….Gerne setzen wir im „Zeidner Gruss“ diese Reihe, mit der Frieder Stolz begonnen hat, weiter. Und am besten meldet ihr euch bei Hans Königes, 0172/82 32 038 oder hkoeniges@idg.de