13.01.2015

Die Deportation der Siebenbürger Sachsen vor 70 Jahren in den Donbass

Erwin Mathias Reimer (1915-2000) war  Arzt in jenen verhängnisvollen Zeiten  

Im Januar  jährt sich zum siebzigsten Mal die Deportation vieler Siebenbürger Sachsen in die Arbeitslager im Donezbecken (Donbass) in der damaligen Sowjetunion. Am 13. Februar wäre Dr.med. Erwin Mathias Reimer einhundert  Jahre alt geworden. Anfang Januar 1945 hatten die Sowjets die rumänische Regierung aufgefordert,  die arbeitsfähigen ethnisch deutschen  Bürger ihres Landes (Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und Sathmarer Schwaben)  zur Zwangsarbeit auszuliefern.  Männer von siebzehn bis fünfundvierzig und Frauen von achtzehn bis dreißig  Jahren  waren betroffen.  Sie wurden nach Listen, die rumänische Behörden erstellen mussten, durch gemischte rumänisch-sowjetische Patrouillen aus ihren Häusern geholt und zu zentralen Sammelstellen gebracht. Ziel war der Wiederaufbau der im Eroberungskrieg Hitler-Deutschlands  zerstörten Teile ihres Landes.

Im Burzenland wurden am  13. Januar 1945 alle ausgehobenen  Männer und Frauen  in Viehwagons  verladen und mit Transportzügen in die Kohlenreviere des Donbass in der Ostukraine deportiert. Ähnlich liefen die Aushebung und die Verschleppung der sächsischen und anderer ethnisch-deutscher Bevölkerungsteile in Rumänien ab.  Die Transporte dauerten zehn bis vierzehn quälend lange Tage bei klirrender Kälte.  Die verschleppten Frauen und Männer standen oder kauerten auf strohbedecktem Boden in den Wagons, zuletzt ohne ausreichende Verpflegung, nachdem die mitgebrachte Nahrung aufgebraucht war. Ab und zu gab es eine Wassersuppe. Die sanitären Einrichtungen bestanden aus einem  Loch im Boden der Viehwagons. In Parkomuna (heute Perevalsk) im Donbass , unweit von  Alschewsk (damals Woroschilowsk) in der Ostukraine war Endstation für die Verschleppten. Sie verließen  die  Wagons und wurden auf  die kaltfeuchten Baracken der mit zwei Reihen Stacheldraht  umgebenen, militärisch bewachten Zwangslager verteilt.  Es folgten fünf Jahre  erzwungener Schwerstarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen verbunden mit physischen und psychischen Gewaltanwendungen auch als Vergeltung für die Verbrechen Hitler-Deutschlands  in der Sowjetunion.  

Dr. Erwin Reimer  aus Zeiden im Burzenland  war einer der Verschleppten. Er war von 1945 bis 1949 alleinbetreuender Arzt in zwei Arbeitslagern in Parkomuna mit mehr als eintausend Deportierten, davon über siebenhundert  Sachsen aus dem Burzenland, zweihundert  Oberschlesier sowie einhundert Ungarn. Unter primitiven Bedingungen  kämpfte  dieser junge sächsische  Arzt zusammen mit drei deportierten sächsischen Krankenschwestern in einem notdürftig eingerichteten Lazarett mit hundert Betten ohne ausreichende medizinische Mittel gegen Krankheiten und das Sterben durch Verhungern,  durch Seuchen wie Typhus und Bakterienruhr sowie gegen die Folgen von schweren Arbeitsunfällen in den mangelhaft gesicherten Kohlegruben im Donbass.  Er konnte viele nicht retten. Diejenigen, die nach Siebenbürgen heimkehrten oder damals gegen ihren Willen nach Deutschland  abgeschoben wurden, dankten ihr Leben lang  diesem sich aufopfernden Arzt für sein Helfen.

Erwin Mathias Reimer, Leutnant 1941 in Bukarest

Erwin Mathias Reimer  (1915 bis 2000) wurde  in Zeiden, damals noch Österreich-Ungarn, geboren.  Auffallend klug und begabt, besuchte er das Honterus-Lyzeum in Kronstadt, studierte  in Bukarest von 1933 bis 1939 Medizin  während politischer Wirren und antisemitischer Pogrome, denen er wiederholt  zum Opfer fiel. Einmal wurde er von Mitgliedern der Eisernen Garde, die ihn für einen Juden hielten, beinahe totgeschlagen. Im letzten Moment erkannte einer der Legionäre in ihm den Siebenbürger Sachsen, mit dem er zusammen studierte. Nach dem Staatsexamen und der Promotion 1940 folgte Anfang 1941 ein verkürztes Pflicht-Jahr als Landarzt in der Dobrutscha zur Malaria- und Fleckfieberbekämpfung. Im Sommer 1941 folgte die Einberufung in die rumänische Armee als  Arzt im Rang eines Leutnants der Reserve zuletzt  in der Sanitätseinheit der 3. Gebirgsartilleriedivision Rosenau (Risnov). Er nahm am Russlandfeldzug  teil, der ihn bis Sewastopol  auf der Krim führte, eine Zeit die er vorwiegend in Frontlazaretten und auf Lazarettzügen verbrachte.  

Unterbrochen wurde dieser Kriegsdienst durch zwei Heimataufenthalte von jeweils drei Monaten 1942 und 1943. Nach drei Monaten Kriegsdienst wurde er  unverhofft aus dem Militärdienst entlassen. Da alle Juden in jener Zeit aus der rumänischen Armee ausgeschlossen wurden, erkannte er die Gefahr für sich und wollte eine Bescheinigung seiner Volkszugehörigkeit  nachreichen. Dieses Dokument  wurde ihm von lokalen Vertretern der  deutschen Volksgruppe verweigert mit der Begründung, dass er ja nicht in der SS oder Wehrmacht diente.  Ein rumänischer Notar attestierte seine ethnische Identität  bereitwillig.  Die deutsche Volksgruppe in Rumänien war  eine vom faschistischen Regime Antonescu geduldete durch das nationalsozialistische (NS) Deutschland eingesetzte Selbstverwaltung für alle ethnisch-deutschen Völker in Rumänien  mit Sitz in Kronstadt. Diese NS-Selbstverwaltung  betrieb eine ideologische und organisatorische Gleichschaltung  der ethnisch-deutschen Minderheiten in Rumänien mit Hitler-Deutschland.  Ein Ziel dieser NS-Selbstverwaltung war die Rekrutierung wehrfähiger „volksdeutscher“ Männer in die Waffen-SS zur Teilnahme am nationalistisch-ideologisch geführten Krieg im Osten und auf dem Balkan. Trotz Repressalien und Drucks weigerte sich Erwin Reimer beharrlich,  seine rumänische gegen eine  deutsche SS-Uniform zu tauschen, auch mit dem Hinweis auf seinen abgelegten militärischen Eid. Er hörte, dass alle Frauen und Männer in Siebenbürgen, die sich dem ethnisch-deutschen Bevölkerungsteil zugehörig fühlten, als sogenannte „Volksdeutsche“  nicht nur einen Ahnenpass anfertigen lassen mussten, um etwa jüdische Vorfahren aufzudecken,  sondern sich auch  einer rassischen Evaluation zu  unterziehen hatten. Er erfuhr, dass ein körperlich und geistig behindertes Junge aus Zeiden auf Drängen der deutschen Volksgruppe ins Deutsche Reich verschickt auf dem „Genesungsaufenthalt“ verstorben war und dass eine Zwangssterilisierung bei einem an einer Erbkrankheit leidenden jungen Geschwisterpaar durchgeführt wurde. Er erfuhr, dass Anhänger der deutschen Volksgruppe  seinen Vater  wegen kritischer Äußerungen über den Nationalsozialismus erschießen wollten.   Er erkannte   die verbrecherischen Züge  des NS-Regimes im Deutschen Reich und  die der deutschen Volksgruppe in Rumänien.  Dr. Erwin Reimer wurde ein überzeugter  Gegner der NS-Ideologie.  Dr. Fritz Klein, auch ein Arzt aus Zeiden, hingegen ging  1943 zur SS, war als Lagerarzt in Auschwitz und Bergen-Belsen an Selektionen beteiligt, wurde 1945 in Lüneburg  vom britischen Militärgericht  zum Tode verurteilt und  gehängt.

Die Nachricht vom Staatsstreich am 23. August 1944 und die Entmachtung Marschall  Antonescu unter Mitwirkung Königs Mihai I, die  den sofortigen Frontwechsel Rumäniens zur Folge hatte, wurde den Offizieren des Regiments, in dem  Erwin Reimer diente, bei Tirgu Jiu in Oltenien mitgeteilt. Überlegungen, sich den rückflutenden deutschen Einheiten anzuschließen, verwarf er schnell.  Obwohl sie rumänische Staatsbürger waren, mussten alle  in der rumänischen Armee dienenden deutschstämmigen Soldaten und Offiziere  per Tagesbefehl am 15. November 1944 entlassen, verhaftet und den Sowjets übergeben werden. Um ihnen die Flucht zu ermöglichen, erhielt Erwin Reimer und  ein weiterer Sachse  vom vorgesetzten Hauptmann in der Division einen drei Tage rückdatierten Entlassungsbefehl.  Er war bis Weihnachten 1944 in Bukarest bei Freunden untergetaucht und  ging dann doch zurück nach Zeiden aus Sorge um seine Familie, da Gerüchte, alle  Rumäniendeutsche müssten nun büßen, kursierten. So kam er Anfang 1945 ebenfalls auf die Liste der zu Deportierenden.

Ende 1949 wurde Erwin Reimer als einer der letzten Zwangsdeportierten aus den Arbeitslagern Schachta 5 Bis und Delta mit den Arbeitsbataillonen 1206, 1207, 1208 in Parkomuna im Donbass in der Ostukraine entlassen. Es gelang ihm, heimlich angefertigte Abschriften der Krankenunterlagen aller Patienten aus dem Lagerlazarett in die Heimat mitzunehmen. Sie sind heute noch eine eindrucksvolle und beklemmende Dokumentation des Leidens und  oft auch Sterbens der Deportierten in den Zwangslagern im Donbass.

Wieder daheim  in Zeiden in einem  zwischenzeitlich kommunistischen Land, Kronstadt hieß damals Stalin-Stadt, wurde Erwin Reimer als Sohn eines zum Großbauern (chiabur) erklärten Vaters wie dieser politisch verfolgt, gedemütigt und drangsaliert. Er musste als  Röntgenarzt bei mangelhaftem Strahlenschutz arbeiten,  wurde krank und berufsunfähig. So beantragte er  mit seiner Familie die Ausreise in die Bundesrepublik, die 1964 gelang.  Er wurde Arzt für Innere Medizin und ließ sich 1969  in eigener Praxis nieder. Nach Aufgabe seiner ärztlichen Tätigkeit 1984 war er vereidigter Dolmetscher der rumänischen Sprache.

Dr. Georg Reimer, Sohn des Arztes Erwin Reimer, wird ein Ölbild von Eduard Morres, dass Russlandheimkehrer aus Zeiden seinem Vater aus Dankbarkeit und für die Anerkennung seines ärztlichen Helfens schenkten, zum 70. Jahrestag der Deportation und zum 100. Geburtstag seines Vaters der Eduard-Morres-Stiftung in Zeiden übergeben.

Zeit seines Lebens beklagte Dr. Erwin Mathias Reimer den Verlust der Heimat Siebenbürgen und war oft besuchsweise wieder dort, zuletzt im Herbst 1990.  Die Erinnerungen an die guten und schweren Zeiten  in seiner alten Heimat wurden überschattet vom Erlebten als Lagerarzt im Donbass in der Ostukraine.  Vor allem das Leiden und das Sterben der gequälten  Landsleute hatte ihn nicht mehr losgelassen. Die Deportation der jungen Siebenbürger Sachsen zur Zwangsarbeit in den Kohlegruben des Donbass in der Sowjetunion war für ihn die Konsequenz des verhängnisvollen Wirkens der deutschen Volksgruppe in Rumänien als willige Vollstrecker der menschenverachtenden NS-Ideologie  Hitler-Deutschlands, die sich auch gegen das über Jahrhunderte gewachsene ausgewogene  Zusammenleben der verschiedenen Völker in  Siebenbürgen (Rumänen, Ungarn, Sekler, Juden, Zigeuner)  richtete und dessen Gleichgewicht zerstörte. Hier sah er den Anfang des Untergangs der Siebenbürger Sachsen als geschlossene ethnische Minderheit im Karpatenbogen. Er sah keine Hauptschuld bei Rumänien, das letztendlich ebenfalls in den Abgrund einer kommunistischen Diktatur gezogen wurde.  Ein Aufarbeiten der NS-Vergangenheit führender Mitglieder dieser deutschen Volksgruppe in Rumänien hatte er stets gefordert und eine gerichtliche Klärung ihrer Schuld.  Erwin Reimer hatte einige von ihnen  nach seiner Umsiedelung 1964  in der jungen Bundesrepublik wieder angetroffen, manche in leitenden Positionen bei der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen jener Zeit. Sie hatten sich rechtzeitig ins „Reich“ absetzten können und ihre Landsleute in Siebenbürgen ihrem Schicksal  überlassen. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit dieser deutschen Volksgruppe in Rumänien wurde den Historikern überlassen. In der Landsmannschaft in der Bundesrepublik  wurde diese braune Vergangenheit konsequenterweise anfänglich  tabuisiert und später kleingeredet. Glaubhafte Ansätze, dies zu ändern, sind heute erkennbar.

Erwin Reimer hatte stets und vehement eine angemessene Entschädigung  von der Bundesrepublik Deutschland, dem „Nachlassverwalter“ des Dritten Reiches,  nicht nur für alle Opfer der NS-Gewaltherrschaft allgemein verlangt sondern auch für das Opfer der Siebenbürger Sachsen in der Deportation und der Zwangsrekrutierung in die Waffen-SS im Besonderen. Ab dem 02.07.2013 erhalten nun alle nach Russland Zwangsverschleppte  jener Zeit auf Antrag  eine monatliche  Entschädigungsrente aus Rumänien, wahrlich eine bemerkenswerte Geste einer Wiedergutmachung.  

Georg Reimer