"Zeidner Wanderwege" - ein Erinnerungsbuch von Hans Wenzel
Im Frühjahr dieses Jahres ist das Bändchen mit der Nummer 18 der Reihe "Zeidner Denkwürdigkeiten" von der Zeidner Nachbbarschaft herausgebracht worden. Seine Überschrift: "Zeidner Wanderwege". Der Untertitel fasst den Inhalt des Büchleins kurz zusammen: "Erinnerungen in Geschichten und Gedichten rund um den Zeidner Berg in Siebenbürgen".
Vor dem Druck ist viel diskutiert worden, ob die Texte in den Rahmen "Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde" passen. Der Autor Hans Wenzel selbst, der allen Zeidnern gut bekannte Wanderfreund und militante Benutzer und Bewahrer der Mundart seines Heimatortes - er hat eine Sammlung von etwa 12 000 siebenbürgisch-sächsischen Wörtern und Redewendungen in Zeidner Lautung erstellt -, meldet weder literarische noch wissenschaftliche Ansprüche an.
Zuerst fällt an dem Buch die bestechend schöne Aufmachung auf. Mindestens jedem Zeidner schlägt das Herz beim Blick auf den Umschlag höher: eine Aufnahme des Zeidner Bergs mit den bewaldeten Hügeln davor, mit dem Bergelchen und einem Ausschnitt des oberen Teils der Stadt unter einem blauen, leicht bewölkten Sommerhimmel. Darauf der Titel in verspielter Schreibschrift, der den Nachklang glücklicher Stunden aus einer längst entschwundenen Vergangenheit heraufbeschwört. Beim Aufschlagen des Bändchens erlebt man gleich noch eine Gefühlssteigerung, weil die gleiche Ansicht, jedoch stark erweitert und mit den Namen erinnerungsschwerer Örtlichkeiten versehen, die durch dezente weiße Linien mit diesen verbunden sind, halb Vergessenem wieder Konturen verleiht. Bei jedem, der nie dort gelebt hat, dürfte hingegen die Neugier geweckt worden sein, was es mit dieser idyllischen Landschaft und Bezeichnungen wie Schwarzburg, Ritterfelsen, Geißkuppe, Höllenbrunnen oder Schakerak auf sich hat.
Die Texte sind in sechs Gruppen geordnet. Zur ersten gehören die tief eingeprägten Eindrücke des Verfassers vom ersten Schultag kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und von seiner Zeit als Konfirmand. Beide Erinnerungen sind in Zeidner Siebenbürgisch-Sächsisch geschrieben und darauf ins Deutsche übertragen worden. Sie sind in zwei Spalten nebeneinander gedruckt, so dass der Leser leicht die entsprechende Textstelle in der jeweils anderen Fassung einsehen kann. Da es für die lokale Mundart keine einheitliche Schriftsprache gibt, hat Hans Wenzel schon bei seiner Wörtersammlung Sonderzeichen für die typisch zeidnerischen Laute festgelegt, die er auch hier verwendet. In einem Vorwort erklärt er sie, versieht sie mit Beispielen und setzt deutsche Wörter mit ähnlicher Aussprache daneben. Trotzdem ist das Lesen des Originaltextes eine Herausforderung. Wer sie jedoch annimmt, den erwartet eine so heitere wie aufschlussreiche Lektüre. Kleidung und Speisen. Alltägliches und Anekdotisches, Lebensart und Brauchtum sowie Zeidner Sprachtypisches werden festgehalten - kurz: ein Einblick in die Welt des Heimatortes von Hans Wenzel von vor sechzig-siebzig Jahren erwartet einen, liebevoll, unterhaltsam und mit einem Schuss Selbstironie erzählt.
Der Autor schreibt, wie er spricht: unverkrampftes, ungeschöntes Zeidnerisch, gespickt mit Wörtern und Redensarten, die es entweder nur im Sächsischen oder gar nur im Zeidnerischen gibt. Diejenigen, die die Mundart nur noch gelegentlich sprechen, können sich an Wiederentdeckungen wie "Ugádeåoßel" (Kleidung), "boáertejá väoll" (randvoll) und "wåe dá dir Zet" (ärmlig, armselig) erfreuen. Aus der entstandenen Distanz beginnt man einst Selbstverständliches zu hinterfragen. Was mag zum Beispiel die Zeidner dazu bewegt haben, "dár Håessej" (der Hässliche) ganz ohne Nebenbedeutung für "der Kleine" zu verwenden? Erstaunt und mit leiser Wehmut nimmt man wahr, dass bei immer seltenerem Gebrauch des Dialekts gerade die fest mit ihm verknüpften Sprachelemente zuerst verloren gehen, weil sie durch gängigere (aber weniger farbige), näher dem Deutschen stehende ersetzt werden, dass das eigene Sächsisch verflacht und immer mehr an Echtheit verliert.
Leider hat die Übertragung nicht die Sprachqualität des Ursprungstextes. Sie bleibt irgendwo zwischen wortgetreuer, sich dem Sächsischen annähernder Übersetzung und einer sinngemäßen Neufassung stecken. Die Lockerheit, die Selbstverständlichkeit der Erzählweise ausgetauschter Erinnerungen in kleiner Runde gehen ihr ab. Die Sprache scheint dem Mitgeteilten übergestülpt, ihm nicht zugehörig - ein Gefühl, das bei der sächsischen Fassung nie aufkommt. Ärgerlich ist, dass es auch zu einigen, wenn auch wenigen Verfälschungen kommt. So werden zum Beispiel die "gábackán Fåffárlák" (die aus Pfannkuchenteig gebackenen Pilze) in der deutschen Übertragung zu "in Pfannkuchenteig gebackene Pilze".
In den beiden folgenden Textgruppen werden Wanderwege auf den Zeidner Berg und zu Zielen drumherum vorgestellt. "Der Zeidner Berg" oder "Der Weg zum Mittagstein" sind fast ausschließlich kenntnisreiche und mit vielen reizvollen Einzelheiten versehene Beschreibungen der Örtlichkeiten und der Wege dahin. "Skifahren in Bakantschán - ein Erlebnis aus den 1930er Jahren" und "Eine Klettertour am Bergmassiv" bieten Hans Wenzel die Möglichkeit, die detailverliebten Wanderführungen harmonisch in Erzählungen einzubetten, die dazu Aufschluss über die Beweggründe dieser früher bei den Zeidnern so beliebten Unternehmungen geben, über die Ausrüstung, die Verpflegung und den Ablauf. Auch erwähnt er immer wieder Veränderungen, die die eine oder andere Stelle im Wald im Laufe der Zeit erfahren hat. Diese zahlreichen Informationen, von denen viele sonst nirgends schriftlich festgehalten sind, waren sicher ein starkes Argument für den Druck der Erinnerungen.
Waren es bisher den meisten Zeidnern gut bekannte Routen, die Hans Wenzel geschildert hat, nimmt er uns in seinen zwei folgenden Textgruppen "Tagesausflüge nach Holbach" und "Das Bergwerk Concordia" in das weitere Umland seines Heimatortes mit. Wieder überrascht er den Leser mit der Fülle an Einzelheiten, die ihm von seinen Wanderungen im Gedächtnis geblieben sind. Sie sind so genau festgehalten, dass man die beschriebenen Wege ohne größere Schwierigkeiten finden würde. Einfühlsam und sachkundig geht er auf die ganz andere Lebensweise der Menschen in dem rumänischen Weiler und in der Bergwerksiedlung mit ihrem Völkergemisch ein. Seine persönlichen Beziehungen zu den dort Wohnenden sind typische Beispiele für das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen in Siebenbürgen, das oft so schwer Außenstehenden begreifbar zu machen ist. Hans Wenzel gelingt das hingegen sehr gut.
Bis auf "Eine Sonntagspartie" sind alle Texte der vier letzterwähnten Gruppen in Deutsch geschrieben. Jeder für sich ist eine angenehme Lektüre, die einen gerne über die paar sprachlichen Anlehnungen an das Siebenbürgisch-Sächsische hinwegsehen lässt. Liest man sie jedoch rasch nacheinander, stören unnötige Wiederholungen, die auftreten, wenn die einzelnen Beiträge ohne Überarbeitung Teil einer Sammlung werden. Auch ist es schade, dass man ab und zu auf Fehler stößt, die nach dem Korrekturlesen aus Zeitgründen nicht mehr behoben werden konnten, wie mir der Herausgeber versicherte.
"Tradition und Brauchtum" ist die Überschrift des letzten Abschnitts. Er beinhaltet Texte in Prosa und in Gedichtform, die bis auf "Dá básaondár Riádánsuárt án Záoedán" in Deutsch verfasst sind. Das Kränzchen (die Gruppe von Freunden, mit denen man viele Stunden der Freizeit verbrachte), die Sterz (das einfache Kartoffelgulasch), die Erlebnisse als Mitglied des Männerchors, der Maskenball und das Geschehen um Weihnachten sind die Themen, die das Spektrum "Leben in Zeiden vor einem halben Jahrhundert" erweitern. Mit den Reimen steht Hans Wenzel in der Tradition seines Heimatortes, zu besonderen Gelegenheiten Gefühle in Versform einzufangen. Jedem der Abschnitte sind ein passendes Foto und einige einleitende Zeilen vorangestellt. Alle Beiträge werden mit zahlreichen alten und neuen qualitativ hochwertigen Aufnahmen aussagekräftig und stimmungsvoll illustriert. Allein schon diese Bilder nehmen jeden, der einmal dort gelebt hat, auf eine Reise in die Welt von gestern mit und helfen allen anderen, sich das von Hans Wenzel so gefühlvoll heraufbeschworene Fleckchen Erde vorzustellen.
"Die Zeidner Flur- und Straßennamen in Mundart", eine Kurzbiografie des Verfassers, "Die Übersichtskarte der Zeidner Gemeinde-Waldung" und eine "Karte der beschriebenen Wanderwege und Pfade hinter dem Zeidner Berg" schließen das Buch ab.
Wenn das Bändchen auch Schwächen hat, Hans Wenzels Erinnerungen sind lebensnah und erfahrungsreich. Das sind Eigenschaften, die Geschichten brauchen, um den Jüngeren das Leben ihrer Eltern und Großeltern näherzubringen oder auch um Vergangenes, das sonst verloren ginge, authentisch festzuhalten.
Rita Siegmund, Ulm
Hans Wenzel : Zeidner Wanderwege. Erinnerungen in Geschichten und Gedichten rund um den Zeidner Berg in Siebenbürgen. München 2012. ISBN 978-3-00-038282-6, 130 Seiten, 17 Euro.
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