30.04.2023

„Weiter so!“

Festrede von Professor Konrad Gündisch anlässlich der 70-Jahr-Feier seit der Gründung der Zeidner Nachbarschaft in Deutschland

„Voriges Jahren haben wir in München die Zeidner Nachbarschaft gegründet. Der erste örtliche Zusammenschluss der Siebenbürger Sachsen dieser Art. […] Zu Hause in Zeiden wurde man in die Gemeinschaft hinein geboren und man wuchs darin auf. Die ganze Erziehung in den Schulen und in der Familie war darauf gerichtet. Es wäre niemanden in den Sinn gekommen, sich abseits der Gemeinschaft zu stellen. Gemeinschaft macht stark! Das wussten schon unsere Vorfahren als sie nach Siebenbürgen einwanderten. Nur durch diesen Gemeinschaftsgeist haben sie sich durch Jahrhunderte halten können als deutsche Kolonie im Südosten Europas. Wir brauchen uns bloß zurückzuerinnern was […] durch diesen Gemeinschaftsgeist geschaffen wurde.

Wir wurden aus einer wirklich lebendigen Gemeinschaft gerissen. Auseinandergerissen und verstreut über ganz Europa. Es ist bestimmt nicht leicht, unter solchen Verhältnissen eine Gemeinschaft zu bilden und sie zu pflegen. Auch wird man hier, […] mehr abgelenkt, und der Existenzkampf nimmt einen ganz in Anspruch. […]

Der Zweck unserer Zeidner Nachbarschaft und auch der anderen Nachbarschaften ist derselbe wie zu Hause, und unterscheidet sich nur darin, dass wir nicht geschlossen beieinander wohnen wie daheim. Wir verfolgen keine parteipolitischen Ziele, und treiben auch keine Vereinsmeierei. Wir sind eine Gemeinschaft, der jeder Zeidner angehört. So wie zu Hause jeder seiner Nachbarschaft angehörte, so schließen wir, die wir die Heimat verloren haben, uns wieder zu einer Gemeinschaft zusammen, und heißen diese Gemeinschaft schlechthin Nachbarschaft, weil uns der letzte Sinn dieser Gemeinschaft in dieser Bezeichnung ruht. […] Wir wollen stolz sein auf unser Zeiden! Es war nicht nur eine der größten und fortschrittlichsten Gemeinden Siebenbürgens, für uns war Zeiden am schönsten, weil es eben unsere Heimat ist. […] Meine lieben Freunde, sollten wir nicht stolz und froh sein, dass wir Zeidner überhaupt zusammenkommen können?“

Kein Applaus? Eigentlich ist ja schon alles gesagt, was an einem Tag wie heute zu sagen wäre.

Liebe Zeidnerinnen und Zeidner, da würde ich es mir aber wirklich leicht machen! Denn was Sie bislang gehört haben, sind Zitate aus der Rede, die der Nachbarvater Alfred Schneider beim Ersten Großes Zeidner Treffen in Stuttgart am 5.  September 1953 gehalten hat – vor fast genau 70 Jahren!

Meinen folgenden Ausführungen möchte ich ein weiteres Zitat aus der Rede des Nachbarvaters Schneider vor 70 Jahren voranstellen: „Der erste und letzte Sinn unserer Nachbarschaft ist der, dass wir eine würdige Erinnerung an unsere Heimat bewahren, stets unseren Angehörigen zu Hause gedenken, dass wir die Verbindung zu einander nicht verlieren, und uns gegenseitig nach Möglichkeit helfen. Dieses sollen die Leitgedanken unserer Nachbarschaft sein.“ Das war, kurz und prägnant gesagt, ein äußerst umfassendes Programm – kein sozialistischer Fünfjahresplan, keine sagen wir mal, nationale Wasserstrategie, sondern einfach eine Vorstellung dessen, was man in Zukunft mit und für die Zeidnerinnen und Zeidner tun sollte.

Wollen wir, nach 70 Jahren, eine (Zwischen-) Bilanz ziehen und uns fragen, ob der Plan erfüllt oder übererfüllt wurde, ob die Strategie zum Ziel geführt hat? Gehen wir also den drei Leitgedanken auf den Grund:

1.      „Eine würdige Erinnerung an unsere Heimat bewahren!“

Vorab: Dieser Plan wurde zu wenigstens 1000 Prozent erfüllt, was nicht einmal in der Sowjetunion oder in der DDR, schon gar nicht in der Sozialistischen Republik Rumänien je gelungen ist. Wie kann man eine würdige Erinnerung bewahren? Indem man die Erinnerung an die verlorene Heimat im Gedächtnis behält und weitergibt, ohne dabei in Nostalgie zu verfallen oder gar heimattümelnd zu agieren.

Das tut man in erster Linie durch Begegnung – darüber mehr, wenn ich auf den dritten Leitgedanken zu sprechen komme. Man tut es aber auch durch Veröffentlichungen, die die Erinnerungen wachrufen, sie bewahren und für spätere Generationen festhalten. Da steht die Zeidner Nachbarschaft einsam an der Spitze aller siebenbürgisch-sächsischen Heimatortsgemeinschaften! Die 2004 von Balduin Herter und Helmuth Mieskes 2004 publizierte „Bibliographie Zeiden“ erfasste damals nicht weniger als 874 Titel. Inzwischen sind zahlreiche weitere einschlägige Veröffentlichungen dazu gekommen, die Zahl 1000 dürfte längst erreicht sein und wird in jedem Jahr weiter überschritten.

Seit Weihnachten 1954 gibt die Zeidner Nachbarschaft regelmäßig den „Zeidner Gruß“ heraus. Es ist „weltweit das erste Heimatblatt einer siebenbürgisch-sächsischen Heimatortsgemeinschaft“, wie auf der Homepage www.zeiden.de zu lesen ist. Ein seit 1998 regelmäßig zusammentretender „Zeidner Ortsgeschichtlicher Gesprächskreis“ regt und hört heimatkundliche Vorträge an, initiiert Dokumentationen zur Kultur und Geschichte dieser Stadt und setzt diese Initiativen in Abstimmung mit der Nachbarschaft um, etwa die Pflege eines fotografischen und Urkundenarchivs, die Erfassung genealogischer Daten zur Hofgeschichte und der Kirchenmatrikeln oder die Sicherung und Publikation des „Communitäts-Verhandlungsprotokolls der Marktgemeinde Zeiden 1800-1866“.

Er betreut die Reihe „Zeidner Denkwürdigkeiten“, die inzwischen die Zahl von 20 Büchern oder Broschüren erreicht hat, und nunmehr auch eine neue Publikationsreihe, die „Zeidner MERKwürdigkeiten“. Tonträger halten die musikalische Tradition ebenso wach wie Mundartdokumente die für Auswärtige nicht so leicht verständliche Zeidner Umgangssprache. Der alte Zeidner Wortschatz wurde und wird zeitgerecht erfasst, bevor er sich unter den neuen Umständen und Einflüssen verändert oder gar vergessen wird. Trachten werden bei festlichen Anlässen getragen und auch deshalb gepflegt, sogar eine Trachtenbörse wurde dafür eingerichtet. Sächsische Tänze werden einstudiert und aufgeführt, auch die Blasmusik kommt nicht zu kurz, etwa durch Veranstaltung von Musikantentreffen. Heute und morgen genießen wir die Aufführungen der Zeidner Blaskapelle. Ja, die Erinnerung wird würdig und selbstbewusst bewahrt, die Traditionen werden gepflegt, nicht um nach außen aufzutrumpfen, sondern um inneren Halt zu geben.

Was steckt hinter einer solchen Fülle an Initiativen? Georg Aescht hat das, finde ich, 2006 mit Bezug auf den Sammler des Zeidner Wortschatzes auf den Punkt gebracht: „Hier hat einer seine Begeisterung in Buchform gebracht in der Hoffnung, andere zu begeistern für einen Schatz, den eigentlich jeder besitzt, leider meist ohne ihn als solchen zu achten.“ Dieser Punkt des Begeisterns durch Begeisterung gilt für alle Initiatoren, Autoren und Helfer, die sich seit nunmehr 70 Jahren in Deutschland um die Bewahrung und Weiterentwicklung jenes Schatzes bemühen, den sie in ihrem Heimatort aufgebaut haben - das historische und kulturelle Erbe von Zeiden, auch das unsichtbare Gepäck, das jeder Bewohner aus seiner Heimat in die Welt mitgenommen hat.

Dank dieser Begeisterung ist es gelungen, das Leben und Wirken in dieser Gemeinschaft im Laufe der Jahrhunderte authentisch festzuhalten, den Jüngeren näher zu bringen und den heutigen Bewohnern bekannt zu machen. Unsichtbares Gepäck, das jeder aus seiner Heimat mitgenommen hat, wurde sichtbar gemacht, Unbekanntes herausgefunden und ans Licht gebracht.

2.      „Dass wir stets unserer Angehörigen zu Hause gedenken, dass wir die Verbindung zueinander nicht verlieren!“

Dieses Postulat war 1953 mehr als verständlich, als Krieg, Kriegsgefangenschaft und Deportation zur Zwangsarbeit in der Sowjetunion Familien auseinandergerissen hatten, aber angesichts des Eisernen Vorhangs, der die Freien von den Unfreien hermetisch abriegelte, nur ein Traum. Alfred Schneider fand damals auch dafür die richtigen Worte, sprach von der „seelischen Not unserer Landsleute“ und fügte hinzu: „Diese seelische Not, die jeder von uns trägt, sei es die Sehnsucht und Sorge nach seinen Kindern, seiner Frau, seinen Geschwistern oder alten Eltern, diese Not kann uns niemand abnehmen. Wenn sie auch überdeckt und zurückgedrängt wird im Laufe der Zeit, vom Alltag […]; sie bricht doch immer wieder auf wie eine alte Wunde, die nie heilt. […] Meine lieben Freunde, was sind unsere Nöte gegen diejenigen unserer Lieben in der Heimat! Sie haben nicht nur Haus und Hof und Existenz verloren, sie tragen nicht nur die Sorge und Sehnsucht nach uns, ihren Angehörigen auf dem Herzen; sie leben in bitterer Not und in ständiger Angst; was wird der morgige Tag bringen, was die nächste Stunde. Was gäben unsere Angehörigen dafür, wenn sie sich auch so frei und ungehindert bewegen dürften wie wir.“

Wie viel Mitgefühl spricht aus diesen Worten für „unsere Angehörigen zuhause!“ Und wie viel Kraft erforderte es, zu ihnen in jenen Zeiten Verbindung zu halten, durch Briefe, von denen man wusste, dass sie von der Securitate gelesen werden, durch Hilfssendungen, wenn das vom Regime nur zugelassen wurde, durch den Einsatz bei den politisch Verantwortlichen in Deutschland für die Familienzusammenführung, durch Appelle an das Internationale Rote Kreuz, durch viele kleinere und größere Gesten der Verbundenheit.

Heute, sieben Jahrzehnte danach, ist dieses Postulat selbstverständlich und wird von der Zeidner Nachbarschaft mit einer bewundernswerten und beispielgebenden Selbstverständlichkeit umgesetzt. Die Kontakte zur evangelischen Kirchengemeinde A. B. werden intensiv gepflegt, jene zur politischen Gemeinde ebenso, obwohl sie die Zeidner sächsische Gemeinschaft zwar hoch achtet, aber doch, verständlicherweise, vor allem andere Schwerpunkte setzt, setzen muss, um mit der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen Rumäniens mitzuhalten.

Die Fülle der Initiativen und Aktionen in diesem Bereich ist kaum überschaubar: regelmäßige Besuche des Nachbarvaters und seiner Kolleginnen und Kollegen in der Vereinsleitung gehören – von der Coronazeit abgesehen, zum selbstverständlichen Programm, und das nicht nur einmal, sondern mehrmals im Jahr! Es wurde ein Zeidner Treffen vor Ort, in der Heimat organisiert, um die Verbindung aller Zeidner, hüben wie drüben, zu stärken. Die Kirchenrenovierung wird, dank der Spenden der Nachbarschaftsmitglieder, durch sehr hohe finanzielle Zuwendungen unterstützt. In Arbeitscamps wird konkret die nicht ganz leichte Hand angelegt, um das wichtige Projekt voranzubringen. Der Nachbarvater setzt sich bei Verantwortungsträgern in Deutschland und in Rumänien für seine Landsleute in Siebenbürgen ein. Auch bei der Analyse dieses Leitgedankens stellt man fest: Soll erfüllt, Erwartungen weit übertroffen.

3.       „Dass wir für die Verbindung zu einander nicht verlieren, und uns gegenseitig nach Möglichkeit helfen“

Nun, da spricht die Existenz der Nachbarschaft über sieben Jahrzehnte hinweg für sich und dem müsste nichts hinzugefügt werden. Allein die Gründung war damals, 1953, ein Unikum – es war die zweite siebenbürgisch-sächsische Heimatortsgemeinschaft in Deutschland nach Heldsdorf schlechthin. Der Name war Programm: man stellte die Verbindung zur Heimat her durch den vertrauten, Zusammengehörigkeitsgefühl vermittelnden Namen „Nachbarschaft“.

Nachbarschaften sind in Ortsvierteln oder Gassen Siebenbürgens seit dem 16. Jahrhundert bekannt. Sie entstanden, um das Zusammenleben benachbarter Familien zu regeln, gegenseitige Hilfe von der Wiege bis zur Bahre zu organisieren, sozialdisziplinierend zu wirken, um das friedliche, achtsame Zusammenleben zu ermöglichen, gemeinsam Häuser zu bauen, gemeinsam zu feiern, gemeinsam zu trauern und den verstorbenen Nachbarn zu Grabe zu tragen. Die nachbarschaftlichen Regelungen der Siebenbürger Sachsen wurden bewundert und nachgeahmt, ein Klausenburger Kollege hat einen „Articuş de vecinătăţi“ der Rumänen aus Rumes gefunden, untersucht und festgestellt, dass die meisten Paragraphen aus den Nachbarschaftsstatuten der sächsischen Mitbürger übernommen worden sind.

Gute Nachbarschaft ist ohne die Autorität von Persönlichkeiten nicht denkbar, die den Mut und die Einsatzbereitschaft haben, für ihre Mitmenschen zu wirken. Und es gehört Mut dazu, etwas zu tun statt im stillen Kämmerlein zu sitzen und zuzuschauen! Nichts ist undankbarer, als ein verantwortungsvolles Ehrenamt: Man ist für alles zuständig, für alles verantwortlich und man wird eher kritisiert, denn gelobt. Für den kleinsten Fehler, noch mehr, für den angeblich kleinsten Fehler wird man an den Pranger gestellt – den meist jene aufstellen, die lieber „am Rande des Fußballfeldes stehen“ statt mitzuspielen, die Erfolge erscheinen den meisten als selbstverständlich.

Und doch, ehrenamtlicher Einsatz bringt auch Erfüllung, die Freude, etwas für die Gemeinschaft zu tun! Darum sei den Nachbarvätern der letzten sieben Jahrzehnte ­­– Balduin Herter, Volkmar Kraus, Udo Buhn und Rainer Lehni ein herzliches Dankeschön zugerufen, ein Dankeschön für die vielen und nicht selbstverständlichen Erfolge dieser herausragenden Heimatortsgemeinschaft. Ebenso laut und herzlich sei den zahlreichen ehrenamtlich arbeitenden Zeidnerinnen und Zeidnern gedankt, ohne die kein Nachbarvater erfolgreich wirken kann.

            Was, und wie sie gewirkt haben, ist an unzähligen Einzelaktionen abzulesen, die initiiert, vorbereitet und durchgeführt wurden, denn „eine Nachbarschaft ist mehr als das, was eine Gasse war“, wie ein Zeidner so treffend formuliert hat. Ich soll nur 15 Minuten sprechen, darum reiße ich nur einige Themen an, das Ergebnis haben die meisten unter Ihnen selbst erlebt und genossen:

-          regelmäßige Nachbarschaftstreffen, in Deutschland und in Zeiden,

-          Regionaltreffen der Burzenländer Heimatortsgemeinschaften,

-          Skitreffen von Jung und Alt, das 37. in diesem Jahr, bei „Sonne, guter Laune und Schnee“,

-          Veranstaltungen für die Jugendlichen, die dereinst das 100., 125., 175., 200. Jubiläum dieses Vereins vorbereiten und genießen werden,

-          Faschingsveranstaltungen,

-          Zusammenkünfte des Literaturkreises,

-          Rennen und Fahrten der Zeidner Motorradfreunde,

-          Zeidner Ortsgeschichtlicher Gesprächskreis und

-          Musikantentreffen

-          Oh, ich fang an mich zu wiederholen, also, um nichts auszulassen: etcetera, etcetera

Zum Schluss nur noch eine Feststellung: Nichts wird isoliert getan, man grenzt sich nicht ab, weder von der Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen noch von der Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in Rumänien, von der Europäischen Gemeinschaft ohnehin nicht. Man arbeitet vielmehr mit allen zusammen. Zwei vielsagendee Beispiele:

-          der amtierende Nachbarvater ist Bundesvorsitzender des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Präsident der weltweiten Föderation der Siebenbürger Sachsen ­– als solcher beteiligt an allen verständigungspolitischen und gemeinschaftsverbindenden Aktivitäten seiner Landsleute in Deutschland, in Rumänien, in Europa, überall in der Welt, wo diese leben;

-          als es darum ging, das kulturelle Zentrum und den ideellen Identifikationsort der Siebenbürger Sachsen in Deutschland zu retten, um- und aufzubauen, zu neuem Leben zu erwecken, brachte die Zeidner Nachbarschaft sehr hohe finanzielle Mittel auf, die weit über dem Durchschnitt liegen, und ebenso großen ideellen ehrenamtlichen Einsatz! Dafür dankt der „castellanus Saxonus emeritus Palatii Horneck“ ganz herzlich.

Der Siebenbürger Sachse aber dankt für alles, was in siebzig Jahren von dieser Nachbarschaft für seine Gemeinschaft getan wurde und wünscht für die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte: Weiter so!