09.04.2018

Peter Jacobi bei Otto Scherer

Ein Lichtschein liegt auf dem Besonderen

Ist es nicht so, dass wir oft etwas erst schätzen lernen, wenn es uns zu entgleiten droht? Bringt nicht erst der Verfall in vielen Fällen zutage, was unter dem dicken Putz der Jahrhunderte schlummerte? Wenn man Tand und Protz wegnimmt, wird das Wesentliche freigelegt, der Kern der Geschichte. Und wenn einem, der nicht nur eine gute Kamera, sondern auch den Blick für das Besondere hat, die Gunst zufällt, genau zur rechten Zeit am Ort dieses Geschehens zu sein, dann kann daraus werden, was Otto Scherer zurzeit in seiner Galerie ausstellt: Meisterwerke von Peter Jacobi.

Rund 300 Kirchenburgen hat Siebenbürgen, über 200 hat der Fotokünstler besucht, viele mehrfach. Immer zur Unzeit, würden manche sagen. Immer zur rechten Zeit, sagen andere. Erstere wollten nur die Schönheit festhalten, bedauerten den Verfall oder kehrten ihm den Rücken, um nicht hinsehen zu müssen. Letztere sahen der Wahrheit ins Auge, ließen sich aufrütteln – und machten sich stark für den Erhalt dessen, was schon totgeglaubt war.

Als die Siebenbürger Sachsen die Heimat verließen, die ihnen Identität verliehen hatte, ließen sie alles zurück, was schwer ist, sagte die Kunsthistorikerin Birgit Kremer bei der Vernissage. Betroffen macht da schon der Schnappschuss in die verlassene Lehrerwohnung, Stiche direkt ins Herz für jeden belesenen Menschen: Wie kann einer seine Bücher zurücklassen? Er kann, wenn er muss, weil es keine Alternative gibt. Was in die Koffer kommt, entscheidet die Waage, und Bücher wiegen schwer.

Noch schwerer aber wiegen Kirchenburgen. Keiner kann sie mitnehmen. Manch einer, der spät in den verlassenen und entleerten Raum Gottes kam, meinte, das Gold von den Wänden brechen zu können. Aber nein, es war nur Schein, eine dünne Farbschicht auf Gips oder Holz. Die wahren Werte lagen darunter. Auch unter dem evangelischen Putz, der abbröckelte und die vormalige katholische Bemalung der ersten Kirche freigab. Nicht nur in der Bergkirche in Schäßburg, sondern an vielen anderen Orten Siebenbürgens ebenso. Kratzt nicht an der Oberfläche, wenn ihr nicht bereit seid, euch der Vergangenheit zu stellen!

Peter Jacobi war bereit. Und er hat hingesehen, was der warme Sonnenstrahl durch morsche Fenster beleuchtete: Wagenräder und Speichen, verschüttet im Staub – flüchtige Blicke sehen Gebeine. Ja, es sind die Gebeine der Geschichte menschlichen Wirkens an diesem Ort. Personen hat der Fotograf nicht festgehalten, dennoch gibt es kein Bild, das nicht ihre Spuren zeigt. Keine zweigende Natur, sondern gewachsene Bauwerke, Ranken aus Holz und Marmor, Gewölbe mit gebogten Rippen, die im spärlichen Licht ausgemergelt wirken oder den Widerschein ihrer einstigen Schönheit in einem letzten Aufleuchten hervorbringen.

Geöffnete Gruften vor dem uralten Altar derjenigen, die schwerere Zeiten erlebt haben als wir – und doch geblieben sind. Wer das weiterdenkt, kommt an unliebsamen Fragestellungen nicht vorbei. Warum sind wir gegangen? Warum hat die Geschichte gerade uns zu Totengräbern gemacht? Vielleicht weil erst wir und nur wir dazu fähig sind, das festzuhalten, was uns nicht loslässt, in Bild und Ton und Schrift. Die Nachfolgenden sind in den Umbruch hineingeboren, aber wir haben noch den Hauch der Tradition geatmet, lebten noch am Puls der Ahnen, die uns mahnen: Vergesst uns nicht! Peter Jacobi hat ihren Impuls aufgenommen, ist unermüdlich knipsend durchs Land gezogen. Auch weil er nach der Wende schon sesshaft war in dem Land, das die meisten sich jetzt erst zu einer neuen Heimat kneten mussten.

Peter Jacobi hatte schon den Kopf frei und das Herz offen für das Gegenwärtige. Und was zu schwer wog für ein Bild an der Wand, hat er in Stein gehauen, in Bronze gegossen, auf ein Podest erhoben oder in die Ecke gestellt: die Pufoaica der in der Ferne Frierenden, das Ossarium der im Äther Untergegangenen, die unendliche Ummantelung des ewigen Kreuzes, die bleiche Hand des Strebens wie des Sterbens, den tiefen Brunnen unser aller Erinnerungen …

Peter Jacobis Fotografien und Skulpturen hängen, liegen und stehen bis 20. Mai in Otto Scherers Galerie KunstRaum in Stoffen. Wer herzoffen hingeht, dem wird das Herz übergehen beim Anblick der sichtbar gewordenen Gefühlsstürme, die immer noch manchmal an uns rütteln.

Carmen Kraus, Landsberg am Lech, am 7. April 2018